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Trichotillomanie: Psychotherapie wirkt besser als Medikamente

Samstag, 1. Juli 2017 – Autor: Anne Volkmann
Menschen, die unter Trichotillomanie leiden, reißen sich oft stundenlang zwanghaft die Haare aus. Das Verhalten dient dazu, innere Spannungen abzubauen. Eine Meta-Analyse hat gezeigt, dass Psychotherapien den Betroffenen meist besser helfen als Medikamente.
Zwanghaftes Haareausreißen

Das zwanghafte Ausreißen von Haaren dient manchen Menschen zum Spannungsabbau – Foto: anetlanda - Fotolia

Wer unter Trichotillomanie leidet, hat den Impuls, sich die Haare auszureißen – oft so stark, dass kahle Stellen am Kopf entstehen. Ursache für das Verhalten, unter dem die Betroffenen selbst sehr leiden, sind häufig innere Spannungen, die durch das Ausreißen der Haare gelindert werden sollen. Die Trichotillomanie zählt daher nach der internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) zu den Störungen der Impulskontrolle. In vielen Fällen liegen neben der Trichotillomanie weitere psychische Erkrankungen vor. Einer Studie zufolge haben 39 Prozent der Erwachsenen mit Trichotillomanie eine weitere psychiatrische Diagnose; meist leiden sie zusätzlich unter Depressionen, Angststörungen, Abhängigkeitserkrankungen oder anderen Verhaltensstörungen.

Mediziner hielten die psychische Erkrankung lange für höchst selten, da Betroffene ihr Leiden meist aus Scham verschweigen. Doch die Störung ist verbreiteter als man denkt. So hat eine im Jahr 2009 von Forschern der Oregon Health & Science University in Portland veröffentlichte Studie ergeben, dass rund 1,2 Prozent der US-amerikanischen Bevölkerung unter krankhaftem Haareausreißen leidet. Etwa die Hälfte dieser Personen erfüllte dabei alle klinischen Kriterien der Trichotillomanie: Dazu gehören die innere Spannung kurz vor dem Ausreißen sowie das Gefühl der Erleichterung danach, aber auch die Tatsache, dass die Störung die Lebensqualität stark beeinträchtigt.

Innere Spannungen und Depressionen können Trichotillomanie auslösen

Wie genau das Ausreißen der Haare vonstatten geht, ist unterschiedlich. Manche Betroffene wählen nur bestimmte Arten von Haaren aus, beispielsweise nur graue, besonders dicke oder abstehende Haare. Andere zupfen ständig unbewusst an den Haaren herum und bemerken es erst später. Ein Teil der Betroffenen rupft sich immer nur einzelne Haare aus, manche reißen ganze Haarbüschel auf einmal aus der Kopfhaut. In einer speziellen Variante kauen die Betroffenen danach auf den Haaren herum und verschlucken sie manchmal. Diese sogenannte Trichophagie kann in seltenen Fällen zur Bildung von Haarknäueln im Magen-Darm-Trakt und sogar zum Darmverschluss führen.

Ausgelöst wird die Störung bei vielen Patienten durch Spannungen, depressive Gefühle, Erschöpfung, Ärger oder auch Langeweile. Das Haareausreißen wirkt dann beruhigend, ablenkend und spannungsmindernd. Da dies kurzfristig meist funktioniert, langfristig die Spannungen dadurch aber nicht abgebaut beziehungsweise eher noch verstärkt werden, muss das Verhalten ständig wiederholt werden. Auch die Gewöhnung spielt dabei eine Rolle. So kann das Ausreißen der Haare zu einem Ritual werden, das irgendwann ohne konkrete Auslöser abläuft – beispielsweise immer abends beim Fernsehen, Lesen oder Telefonieren.

SSRI zeigen nur wenig Wirksamkeit bei Trichotillomanie

Die Behandlung der Trichotillomanie beruht auf zwei Säulen, der medikamentösen Therapie und einem verhaltenstherapeutischen Ansatz. Häufig werden Antidepressiva aus der Klasse der selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) eingesetzt, obwohl Studien gezeigt haben, dass sie bei der Verminderung der Trichotillomanie-Symptome eher wenig wirksam sind. Sinnvoller scheinen hingegen das trizyklische Antidepressivum Clomipramin, das Neuroleptikum Olanzapin sowie der Hustenlöser N-Acetylcystein zu sein. N-Acetylcystein beeinflusst die Regulierung des Botenstoffs Glutamat im Gehirn und scheint auf diese Weise die Kontrolle von Impulsen zu verbessern.

Insgesamt scheinen psychotherapeutische Verfahren bei Trichotillomanie wirksamer zu sein als eine medikamentöse Behandlung. Darauf weist eine Meta-Analyse von Forschern um Reneta Slikboer von der Swinburne University in Hawthorn (Australien) hin. Von den untersuchten Psychotherapie-Verfahren erwies sich die Verhaltenstherapie als besonders wirksam. Aber auch eine unterstützende Psychotherapie sowie Entspannungsverfahren zeigten gute Effekte.

Bei einigen Patienten hat sich auch das sogenannte Habit Reversal Training als wirkungsvoll erwiesen. Das spezielle Training kombiniert verschiedene Methoden, welche die Selbstwahrnehmung des Patienten verbessern, Verhaltensweisen verändern und neue Gewohnheiten im Alltag etablieren sollen. Ergänzend dazu bauen Entspannungsmethoden die innere Unruhe ab. Neben den genannten Methoden kann auch die Teilnahme an Selbsthilfegruppen dazu beitragen, das Verhalten schrittweise zu verändern. Auch wenn nicht immer völlige Symptomfreiheit erreicht werden kann, kann Patienten also auf verschiedenen Wegen geholfen werden, dem Zwang zum Haareausreißen zu entkommen.

Foto: © anetlanda - Fotolia.com

Hauptkategorie: Medizin
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