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„Wollen Ärzten Hilfe bei der Triagierung an die Hand geben“

Dienstag, 7. April 2020 – Autor:
Noch müssen Ärzte in Deutschland keine Triagierung von COVID-19-Patienten vornehmen. Doch was wenn, die Intensivkapazitäten auch hier zu Lande nicht reichen? Gesundheitsstadt Berlin hat über das bedrückende Thema mit Prof. Dr. Elisabeth Steinhagen-Thiessen gesprochen. Die Charité-Medizinerin befasst sich als Mitglied des Deutschen Ethikrats und einer soeben eingerichteten Task Force des Berliner Senats intensiv mit dem Worst-Case-Szenario „Triagierung“.
Prof. Dr. Elisabeth Steinhagen-Thiessen

Prof. Dr. Elisabeth Steinhagen-Thiessen

Frau Professor Steinhagen-Thiessen, wie weit sind wir momentan noch davon weg, dass Ärzte entscheiden müssen, wer die lebensnotwendige medizinische Hilfe bekommt und wer sterben muss?

Steinhagen-Thiessen: Das lässt sich wirklich schwer sagen. Ich wünsche mir natürlich, dass wir nie in diese Situation kommen. Aber wie gesagt, ich maße mir da keine Prognose an.

Was könnte eine katastrophale Lage wie wir sie in Italien, Frankreich oder USA sehen, vielleicht noch abwenden?

Steinhagen-Thiessen: Deutschland hat zwei Vorteile: Einmal haben wir viele Krankenhausbetten und vor allem auch Intensivbetten – ungefähr fünfmal so viele wie zum Beispiel England bezogen auf die Einwohnerzahl. Das zahlt sich jetzt aus. Und zum anderen sind wir nicht so von einem Tsunami überrollt worden wie etwa Italien oder Straßburg. Wir konnten uns in der Zwischenzeit darauf vorbereiten, also Kapazitäten erhöhen, Stationen umstrukturieren und so weiter. Und wir haben mittlerweile drei Papiere, die Ärzte für den Fall, dass wir in so eine Notlage kommen, Hilfestellungen an die Hand geben und entlasten sollen. Allerdings kommt es jetzt meiner Ansicht nach entscheidend darauf an, dass wir viel breiter testen. Es sind ja viele Menschen infiziert, die das Virus weitergeben können, aber momentan noch nicht getestet werden. Das muss sich auf jeden Fall ändern, um Schlimmeres zu verhindern.

Sie haben die Ad-Hoc-Stellungnahme des Deutschen Ethikrats mit verfasst und gemeinsam mit anderen ärztlichen Kollegen ein weiteres Papier namens HILFE erarbeitet, das sich an die Berliner Akutkrankenhäuser richtet. Und dann gibt es ja noch die klinisch-ethischen Empfehlungen von sieben Fachgesellschaften (7 G) für die Notfall-und Intensivmedizin im Kontext der COVID-19-Pandemie. An welche Empfehlungen sollen sich Ärzte denn im Ernstfall halten?

Steinhagen-Thiessen: Für Berlin sollte ab sofort das Papier „HILFE“ Richtschnur sein. Hierin geben wir auf knappen vier Seiten den Intensivstationen von Akutkrankenhäusern im Land Berlin Hinweise, wie die Empfehlungen der sieben Fachgesellschaften und des Deutschen Ethikrats konkret umgesetzt werden können. Das alles müssen die Kliniken wiederum in eigene Vorschriften, sogenannte Standard Operating Procedures (SOP), gießen, denn jedes Haus hat ja unterschiedliche Strukturen. Aber der Rahmen ist für alle gleich.

„HILFE“ wurde von einer Task Force erstellt, die der Berliner Senat gemeinsam mit der Ärztekammer Berlin aus Anlass der COVID-19-Pandemie gegründet hat. Sie sitzen zusammen mit weiteren erfahrenen Ärzten in diesem Gremium und können uns sicher ein paar Einblicke geben?

Steinhagen-Thiessen: Unsere Motivation war es, Ärzte besser auf den Ernstfall vorzubereiten, also die Triagierung während der Pandemie. Es sind ja am Ende die Ärzte, die diese belastenden Entscheidungen treffen müssen, das Dilemma kann ihnen keiner abnehmen – und aus guten Gründen auch nicht der Staat. Darum möchten wir sie mit Entscheidungshilfen stützen in einer Situation, für die es kein Patentrezept gibt.

In Italien und Frankreich werden aus der Not heraus COVID-19-Patienten nach Alter selektiert. In „HILFE“ Deutschland undenkbar?

Steinhagen-Thiessen: Alter ist kein Kriterium, das steht so ausdrücklich in allen drei Papieren, und das kann man gar nicht oft genug betonen. Vor dem Gesetz ist jeder Mensch gleich und die Menschwürde muss gewahrt bleiben. Wenn wir aber in einer Situation sind, wo die Beatmungsplätze nicht für alle reichen, dann stellt sich zunächst die Frage nach der Behandlungsnotwendigkeit, und wenn die gegeben ist, gilt das Prinzip der Aussicht auf Erfolg bzw. der Aussichtslosigkeit. Wir verweisen im „HILFE“-Dokument an dieser Stelle auf das Schema aus den 7G-Empfehlungen „Entscheidungsfindung bei nicht ausreichenden Ressourcen.“ Bei diesen medizinischen Einschätzungen spielen natürlich auch Co-Morbiditäten eine Rolle und somit indirekt das Alter, da ältere Menschen ja häufiger mehrere Begleiterkrankungen haben, die ihre Prognose verschlechtern. Solche Einschätzungen auf Erfolgsaussichten sind erfahrenen Ärzten vertraut, das machen sie oft auf Station, aber jungen Kollegen kann man so etwas im Rahmen einer Triagierung nicht überlassen.

Deswegen schlagen Sie was vor?

Steinhagen-Thiessen: Wir sagen: So eine Entscheidung darf kein einzelner Arzt alleine treffen müssen, das muss von einem Team aus zwei erfahrenen Intensivmedizinern/Fachärzten und einer Pflegekraft gemacht werden. Zusätzliche Expertise wäre gut, aber ist sicher nicht überall leistbar. Am Ende muss das Team gemeinsam zu einer wohlüberlegten, begründeten und transparenten Entscheidung kommen, die möglichst einheitlich angewandt wird. Ganz wichtig ist, alles zu dokumentieren. Das hat auch rechtliche Relevanz, denn es werden mit Sicherheit Klagen kommen.

Es ist gut, dass Ärzte nicht allein solche unvorstellbar schwierigen Entscheidungen treffen müssen, sondern in einem erfahrenen Team. Muss denn theoretisch auch ein Patient vom Beatmungsgerät abgehängt werden, wenn ein anderer kommt, der die besseren Überlebensaussichten hat?

Steinhagen-Thiessen: Das ist wirklich die allerschlimmste Situation, die Sie sich vorstellen können, wir nennen es die Ex-post-Konkurrenz. Ja, und auch hier müssen Ärzte die vorgegebenen Kriterien anlegen und die lebenserhaltende Maßnahme notfalls beenden. Strafrechtlich ist das sogar so etwa wie Tötung. Es gibt für diesen Fall aber die sogenannte „entschuldigende Nachsicht der Rechtsordnung“, die Ärzte vor einer Bestrafung schützen soll. Nichtsdestotrotz tragen Ärzte die Verantwortung. Deswegen ist es wichtig, dass sie es im Team tun und gut dokumentieren. Unser Bestreben ist, dass die Berliner Kliniken das möglichst einheitlich tun.

Gibt es neben medizinischen noch weitere Kriterien, nach denen Ärzte triagieren?

Steinhagen-Thiessen: Natürlich spielt der Patientenwille eine Rolle und auch die Lebensqualität. Deswegen müssen Ärzte nach Patientenverfügungen fragen und mit den Angehörigen sprechen. Es gibt Scores, in denen letztlich alle Kriterien gewichtet werden.

Sind Ärzte nicht hinterher traumatisiert?

Steinhagen-Thiessen: So etwas geht an niemandem spurlos vorbei. Wir gehen in unserem Papier selbstverständlich auf die traumatisierenden Belastungen ein und weisen Kliniken auf eine notwendige psychosoziale Betreuung von Ärzten und Pflegekräften hin. Außerdem war uns noch ein Punkt sehr wichtig: Wenn ein COVID-19-Patient im Sterben liegt, können Angehörige keinen Abschied nehmen. Die Patienten gelten laut Robert Koch-Institut als kontagiös. Das ist für die Familien und das Umfeld sehr, sehr schwer. Diese Vorschrift sollte jeder kennen, zumal sie jetzt schon gilt und nicht erst in der Triagesituation, die wir hoffentlich noch verhindern können.

Elisabeth Steinhagen Thiessen ist SeniorProfessorin für Innere Medizin und Geriatrie und war Leiterin des Arbeitsbereich Lipidstoffwechsel der Medizinischen Klinik für Endokrinologie und Stoffwechselmedizin an der Charité Universitätsmedizin, Berlin. Seit 2012 ist sie Mitglied des Deutschen Ethikrates.

Hauptkategorien: Berlin , Gesundheitspolitik , Medizin
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