
– Foto: Thaiss
Seit Corona wird wieder stärker über das Thema Impfen diskutiert. Wir fragten Prof. Heidrun Thaiss, warum in einigen EU-Ländern die Impfquote höher ist als in anderen. Und aus welchen Gründen sich Menschen hierzulande nicht impfen lassen. Thaiss ist Initiatorin des Nationalen Aktionsbündnisses Impfen (NABI) und frühere Präsidentin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA).
Am Impfen gehe kein Weg vorbei, so die ausgebildete Kinderärztin. "Impfungen sind die wirkmächtigsten primärpräventiven Maßnahmen. Kein Medikament konnte in den vergangenen Jahrzehnten das Auftreten einer Erkrankung verhindern oder so viele schwere Krankheitsverläufe, Komplikationen bei Infektionserkrankungen oder tödliche Ausgänge in einem Ausmaß unterbinden, wie Impfungen es tun."
Impfreaktionen zeigen Auseinandersetzung mit dem Impfstoff
Zudem seien Impfungen mit wenig Aufwand und maximaler Wirkung zu verabreichen. Lokale (Rötung und Schwellung an der Einstichstelle, Schmerzen des Arms) und systemische Impfreaktionen (erhöhte Temperatur oder Kopf- und Gelenkschmerzen, also abgeschwächte Symptome der zu verhindernden Krankheit) zeigen die Auseinandersetzung des Immunsystems mit dem Impfstoff und sind quasi-erwünschte (Neben-)Effekte.
Impfkomplikationen, also mittel- oder langfristig nachteilige Folgen einer Impfung, seien äußerst selten. Bei der Abwägung zwischen den Risiken einer Impfung und den Risiken schwerer Krankheitsverläufe müsse diese zugunsten der Impfung ausfallen.
Impfquote für Influenza bei über 60-jährigen gestiegen
Die Bedeutung von Impfstoffen für die Beendigung einer Pandemie hat Covid-19 eindrücklich gezeigt. Sind die Impfquoten bei anderen Infektionskrankheiten dadurch gestiegen? Bei den über 60-jährigen stieg die Rate der Influenza-Impfungen von einem guten Drittel auf knapp 50 Prozent, berichtet Thaiss. "Es bleibt zu hoffen, dass sich dieser Trend fortsetzt."
Was die Masern betrifft, zeigten Schuluntersuchungen, dass die angestrebte Durchimpfungsrate von 95 Prozent in greifbare Nähe gerückt ist. Leider lässt die Inanspruchnahme bereits bei der zweiten, also der Boosterimpfung, die für einen vollständigen Impfschutz erforderlich ist, erheblich nach.
Warum in einigen EU-Ländern die Impfquote höher ist
Einige Länder wie Spanien, Italien, Frankreich, Belgien und Dänemark weisen eine relativ hohe vollständige Impfrate auf. Für eine hohe Impfakzeptanz spielen kulturelle und religiöse Gründe (mit ausgeprägtem Gemeinschaftssinn und generationenübergreifendem Zusammenleben) eine nicht unerhebliche Rolle.
Autoritäre osteuropäische Staaten hingegen zeigen niedrige Quoten. Dies mag mit mangelndem Vertrauen in Politik, Medien und Wissenschaft, Verschwörungstheorien, schwierigem Zugang zu potenten Impfstoffen, impfskeptischen Ärzten und Ärztinnen und wenig aussagefähigen Statistiken zusammenhängen, meint Prof. Thaiss.
Warum sich viele Menschen hierzulande nicht impfen lassen
Die Gründe dafür, dass sich viele Menschen hierzulande nicht impfen lassen, sind heterogen, das zeigen die Langzeituntersuchungen der BzgA. An vordersten Stellen mit je einem Drittel der Befragten stehen das "Vergessen eines Impftermins" sowie die "Fehleinschätzung der Schwere einer Erkrankung".
"Angst vor Nebenwirkungen" bei jeder vierten und der "Aufwand eines Arztbesuchs" bei knapp jeder fünften Person folgen. Impfkritische mediale Berichterstattung sowie das Abraten durch Arzt/Ärztin oder Freundeskreis sind weitere Hindernisse.
Wie man die Impfakzeptanz fördern könnte
Die Hindernisse für die Impfbereitschaft in Deutschland sind nach Ansicht von Medizinerin Thaiss vor allem struktureller Art: "Das deutsche Gesundheitssystem ist in allen Bereichen auf Kuration und nicht auf Prävention ausgerichtet." Um die Impfakzeptanz zu fördern, schlägt sie unter anderen folgende Maßnahmen vor, die mit wenig Aufwand umgesetzt werden könnten.
- in der Ausbildung/dem Medizinstudium: Wiedereinführung und Etablierung des Impfcurriculums samt praktischem Impfkurs
- in der Weiterbildung des medizinischen Personals: Impfberatung als präventive Maßnahme in allen Spezialdisziplinen etablieren
- jeden Kontakt zum Medizinsystem zur Frage nach dem Impfstatus nutzen
- schulische Reihenimpfungen wiederbeleben
- Etablierung von Schulgesundheitsfachkräften, die Impfberatungen und Impfungen anbieten
- spezielle Impf- und Präventionstage in Arztpraxen anbieten