Selbstwertgefühl auch im Alter relativ stabil
Das höhere Lebensalter ist in der Regel durch zahlreiche Einschnitte gekennzeichnet, etwa Krankheit, abnehmendes Erinnerungsvermögen oder durch den Verlust von Ehepartnern oder engen Freunden. „Die bisherige Forschung hat gezeigt, dass Menschen sich in der Regel an diese Herausforderungen sehr gut anpassen können, jedoch im sehr hohem Lebensalter und insbesondere in den letzten Jahren vor dem Tod das System Mensch immer stärker an seine Grenzen der Anpassungsfähigkeit kommt“, sagt Denis Gerstorf, Professor für Entwicklungs- und Pädagogische Psychologie an der Humboldt Universität Berlin (HU). So konnten Studien zur Lebenszufriedenheit zeigen, dass nicht das Alter an sich zu einer Abnahme der Anpassungsfähigkeit führt, sondern die Nähe zum Tod. Bislang gingen Wissenschaftler deshalb davon aus, dass Menschen in den letzten Jahren vor dem Tod mit so vielen Herausforderungen konfrontiert sind, dass ein Ausgleich nicht mehr möglich und eine Abnahme der Zufriedenheit demnach unausweichlich ist.
Kurz vor dem Tod sinkt das Selbstwertgefühl
Ob dies auch auf die Bewertung und Zufriedenheit mit der eigenen Person zutrifft, das haben Forscher des Instituts für Psychologie der Humboldt Universität Berlin gemeinsam mit Forschern aus USA, Kanada und Australien untersucht. Die Wissenschaftler werteten dabei Daten der Australischen Längsschnittstudie des Alterns aus, für die 1.215 Personen zwischen 65 und 103 Jahren über eine Dauer von bis zu 18 Jahren unter anderem zu ihrem Selbstwert befragt wurden. Etwas ungewohnt an den Daten ist, dass alle Personen der Stichprobe zum Zeitpunkt der Datenauswertung verstorben sein mussten. „Das war wichtig, um Entwicklung nicht nur aus Altersperspektive zu betrachten, sondern um auch die Nähe zum Tod einbeziehen zu können“, erklärt Gerstorf. „Sowohl in Bezug auf das biologische Alter als auch die Nähe zum Tod fanden wir einen leichten Abfall des Selbstwertes, dieser ist jedoch so gering, dass man eher von einer Selbstwertstabilität reden kann.“ Insbesondere im Vergleich zur Lebenszufriedenheit oder den kognitiven Fähigkeiten zeigt der Selbstwert einen viel geringeren Abfall.
Die Daten offenbarten aber auch große Unterschiede zwischen den einzelnen Personen: manche erleben Stabilität, andere einen Abfall und einige sogar einen Anstieg. Bedingt wurden solche Veränderungen in der Stichprobe insbesondere durch zwei Faktoren: kognitive Fähigkeiten und die Wahrnehmung von Kontrolle. „Höhere kognitive Leistungsfähigkeiten und die Wahrnehmung, dass man sein Leben und Verhalten bis zu einem gewissen Grad kontrollieren kann, gingen mit höherem Selbstwert einher“, betont Jenny Wagner, Wissenschaftlerin am Fachbereich Psychologische Methodenlehre der HU und eine der Autorinnen der Studie. Überraschenderweise konnten die Wissenschaftler hingegen keinen Einfluss der Gesundheit auf den Selbstwert finden.
Positive Selbstwahrnehmung wichtiger als Lieblingsessen
„Menschen haben ein grundlegendes Bedürfnis die eigene Person positiv zu betrachten. Dieses Konstrukt wird in der psychologischen Forschung als Selbstwert bezeichnet“, erklärt Jenny Wagner. So haben Studien beispielsweise gezeigt, dass amerikanische Studenten lieber einen Anstieg ihres Selbstwertes erleben als ihr Lieblingsessen zu essen oder einen besten Freund zu treffen. Zudem zeigen neuere Studien, dass ein geringer Selbstwert weitreichende Konsequenzen zu haben scheint, etwa für den Anstieg von Depressionen oder weniger Zufriedenheit mit dem Leben allgemein. Was bislang weniger bekannt war, ist, wie sich Selbstwert im höheren Lebensalter entwickelt. Diese Lücke konnte die Studie nun schließen. Die Studie ist kürzlich im Journal of Personality and Social Psychology erschienen.
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