Seelisch Kranke: Bei Vorurteilen protestieren!

Die Corona-Pandemie hat ohnehin vorhandende Trends wie die Digitalisierung verstärkt. Das gilt auch für psychische Erkrankungen. Toleranz, Verständnis und Empathie in der Gesellschaft aber hinken dieser Entwicklung weiter hinterher. – Foto: AdobeStock/Siam
Krankenhaus- und Todesfälle im Familien- und Freundeskreis, soziale Isolation, Doppelbelastung Familie-Homeoffice, Arbeiten auf Corona-Stationen oder im Altenheim: Die Corona-Pandemie hat die seelische Gesundheit ganzer Gesellschaften angegriffen – und den Trend zu immer mehr psychischen Erkrankungen massiv beschleunigt. Seit Jahren schon nimmt die Zahl der Menschen mit psychischen Erkrankungen zu. Im Pandemiejahr 2020 kamen zum regulären Krankheitsgeschehen 28 Prozent an Depressionen und 26 Prozent an Angsterkrankungen weltweit hinzu, ergibt sich aus einer im Fachmagazin „The Lancet“ publizieren Studie australischer und US-amerikanischer Wissenschaftler. Das sind 129 Millionen psychisch Kranke – zusätzlich.
Krankenzahlen steigen schneller als gesellschaftliche Toleranz
Toleranz, Verständnis und Empathie aber hinken dieser Entwicklung weiter hinterher. „Die Zahl der Menschen mit seelischen Leiden nimmt stetig zu – und doch geht die Diagnose einer psychischen Erkrankung noch immer mit einem Stigma einher“, konstatiert das Gesundheitsmagazin „Apotheken Umschau“ in seiner aktuellen Ausgabe (11A/2021). „Zu faul, selbst schuld, gefährlich: Das sind nur einige der Vorurteile gegenüber psychisch kranken Menschen.“ Viele Betroffene schämten sich, zögen sich zurück und suchten sich erst spät Hilfe – wenn überhaupt. „Das muss sich dringend ändern“, schreiben die Experten der Apotheken Umschau, mit 7,6 Millionen verkauften Exemplaren im Monat das auflagenstärkste Kundenmagazin der deutschen Apotheken.
Depression passt zu unserer Leistungsgesellschaft
Sicher: In der Gesellschaft ist im Umgang mit psychischen Problemen inzwischen einiges in Bewegung geraten. Doch haben manche psychischen Erkrankungen mit weniger Vorurteilen zu kämpfen als andere. Beim Thema Depressionen beispielsweise hat es in den letzten Jahren viel mediale Aufmerksamkeit und zahlreiche Aufklärungskampagnen gegeben, die dazu beigetragen haben, Vorurteile abzubauen.
„Ein anderer Grund ist, dass diese Krankheit perfekt in unsere Zeit und in die Leistungsgesellschaft passt", sagt Professor Georg Schomerus, der an der Universität Leipzig Vorurteile zu psychischen Krankheiten erforscht. „Dieses Gefühl von Überlastung und von ausgebrannt sein, das Menschen häufig mit Depressionen in Verbindung bringen, können viele von uns gut nachvollziehen."
Schizophrenie: Patienten häufiger Opfer von Gewalt als „Täter“
Hingegen fehlt vielen gegenüber Menschen, die an Schizophrenie erkrankt sind, die Empathie. Weit verbreitet ist das Vorurteil, dass die Betroffenen gefährlich sein könnten. Dabei werden Erkrankte viel häufiger Opfer von Gewalt, als dass sie selbst gewalttätig werden und andere in Gefahr bringen. „Wir können nur schwer akzeptieren, wenn sich Menschen mit psychischen Krankheiten seltsam oder unberechenbar verhalten, das verängstigt uns, da ziehen wir uns zurück", erklärt Psychiater Schomerus.
Nicht-Patienten verlangen stärkere Selbst-Kontrolle
Oft gebe es auch ein starkes Bedürfnis, dieses von außen betrachtet unerklärliche, verstörende Verhalten kontrollieren zu wollen. So sei die Meinung, dass die Betroffenen Medikamente einnehmen sollten, um ihre Symptome zu kontrollieren, oder dass sie in die Psychiatrie eingewiesen werden sollten, heute stärker ausgeprägt als noch in den 1990er-Jahren.
Psychiater: Niemand muss Stigmatisierung hinnehmen
Gegen ungerechte Behandlung sollten psychisch kranke Menschen protestieren. „Niemand muss Stigmatisierung hinnehmen", betont Psychotherapeut Schomerus. „Was oft hilfreich ist: Tauschen Sie sich mit anderen Menschen aus, die ebenfalls an dieser Krankheit leiden und von ihren Erfahrungen berichten." Dabei rät der Facharzt aber nicht dazu, die eigene psychische Erkrankung in jedem Fall, in naiver Gutgläubigkeit oder womöglich an falscher Stelle offenzulegen: Nicht jeder hat diese Offenheit verdient, nicht jeder kann damit umgehen. „Die Patienten bringen sehr individuelle Geschichten und Lebensumstände mit“, sagt Schomerus, „und Offenheit ist nicht in jeder Situation empfehlenswert."