Schlagabtausch Streeck Nguyen-Kim bei Maybrit Illner: Können das Virus nicht austrocknen

Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim bei Maybrit Illner: Maßnahmen haben gewirkt. „Verspielen Freiheiten, wenn wir jetzt zu schnell lockern“
Deutschland macht auf – mutig oder riskant? Diese Frage stellte Maybrit Illner am Donnerstagabend. Unter anderem zu Gast: Der Virologe Hendrik Streeck von der Universität Bonn und die Wissenschaftsjournalsitin Mai Thi Nguyen-Kim.
Streeck ist zum Gesicht der umstrittenen Heinsberg Studie geworden und hält extreme Beschränkungen auf Dauer nicht für nötig. „Wir haben in den letzten Wochen alle einen Crash-Kurs in Hygiene gemacht“, sagte er. „Und wir haben gelernt, wie sich das Virus ausbreitet und wie wir uns davor schützen können.“ Darum seien die befürchtete Todeswelle an Ostern ausgeblieben und die Intensivstationen nicht überlastet worden. Was Streeck nicht dazu sagt: Die Intensivkapazitäten wurden seit Mitte März erheblich aufgestockt, auch darum gibt es noch freie Betten.
Viele Menschen auf engem Raum sind die größte Gefahr
Welche der Maßnahmen genau zu diesem Effekt geführt haben, lässt sich Streeck zufolge nicht aus den sinkenden Neuinfektionsraten ablesen. Eines sei aber sicher: Alle größeren Ausbrüche seien immer auf Veranstaltungen zurückzuführen gewesen, wo viele Menschen eng beieinander gewesen seien, sei es in Südkorea, Ischgl oder die Kappensitzung in Gangelt. „Um Infektionen kontrollieren zu können müssen wir auf die Infektionsdosis achten, also wieviel Virus man abkriegt, und das machen wir über die Hygiene“, sagte Streeck. Die Heinsberg Studie zeige da klare Zusammenhänge, deutete er an. Die vollständigen Ergebnisse will er zusammen mit seinem Studien-Team in Kürze der Öffentlichkeit präsentieren.
Streeck glaubt an einen Sommereffekt
Zudem verspricht sich der Virologe einen Sommereffekt. „Studien der MIT suggerieren das und es reicht schon ein Blick nach Australien“, sagte er mit Blick auf wärmere Temperaturen und mehr Draußensein.
Streeck geht daher nicht von einer zweiten Infektionswelle aus, wie es viele befürchten „Außer wir fahren die Maßnahmen jetzt komplett runter, dann kann es schon passieren, dass wir eine zweite oder eine dritte Welle kriegen.“
Mehr Freiheiten, wenn wir jetzt noch durchhalten
Mai Thi Nguyen-Kim widerspricht. Ihrer Ansicht nach kommen die Lockerungen zu früh. Die Zahlen werden wieder steigen, es wird neue Ausbrüche geben, lautet ihre Prognose. Die Folge: Es wird weitere Lockdowns geben. „Wenn wir jetzt noch ein paar Wochen durchhalten und die Infektionszahlen weiter senken könnten, verschaffen wir uns Freiheiten bis zum Ende dieser Epidemie“, sagte sie aus Frankfurt zugeschaltet. Weiter die Zähne zusammenzubeißen, bedeute auch langfristig mehr Freiheiten für die Wirtschaft und das Sozialleben. „Wir sehen doch jetzt schon, dass uns der aktuelle Lockdown an unsere Grenzen bringt. Noch mal später im Jahr werden die Schäden viel, viel größer seien auch für die Wirtschaft und die Gesellschaft.“
Austrocknen lässt sich das Virus nicht
Streeck hält dagegen die jetzt eingeleiteten Lockerungen für vertretbar. Man werde die Effekte genau beobachten und dann nachjustieren können. Und er spricht eine unangenehme Wahrheit aus: „Wir müssen anfangen, mit dem Virus zu leben", sagt er. Es sei ein Aberglaube, dass man das Virus austrocknen könne. Das Virus sei nun mal in der Welt und mache an den Grenzen nicht Halt, egal wie restriktiv man in Deutschland dagegen vorgehen würde.
Kim hatte das so ähnlich suggeriert, als sie für härtere Maßnahmen plädierte, stellte dann aber klar, dass es um die Eindämmung der Epdiemie gehe, nicht um die "Austrocknung" des Virus. „Wir können das Virus nicht ganz austrocknen", sagte sie, " wir haben aber jetzt, wo wir noch ganz am Anfang der Epidemie stehen, die Chance es unter Kontrolle zu bringen.“ Ihrer Ansicht nach verspielen wir diese Chance gerade, weil wir zu ungeduldig sind – „wie kleine Kinder.“
Wer am Ende Recht hat, wird man erst hinterher wissen. Klar ist nur, dass uns das Virus noch lange begleiten wird. Vielleicht sogar für immer. Virologe Streeck erinerte daran, dass man bei anderen Infektionskrankheiten wie HIV, Malaria oder Hepatitis C schon seit Jahrzehnten an einem Impfstoff forsche - bislang vergeblich. Von daher sei es keineswegs ausgemacht, ob es überhaupt jemals einen Impfstoff gegen das Coronavirus geben wird.