Psychiaterin: Corona erzeugt „ungeheuerliches Bedrohungsgefühl”

Psychiaterin Dr. Iris Hauth: Unsere Gesellschaft hat für die Bedrohung durch die Corona-Pandemie keine Bewältigungsstrategie
Schätzungen zufolge sind etwa 1,8 Millionen Menschen in Deutschland mit dem Coronavirus infiziert. Doch das Virus hat uns alle im Griff: Das gesamt Leben hat sich seit Mitte März radikal verändert, praktisch nichts ist mehr so, wie es einmal war.
„Was wir im Moment erleben ist eine Krise, die Deutschland seit dem zweiten Weltkrieg nicht erlebt hat“, sagt die Psychiaterin Dr. Iris Hauth, Ärztliche Direktorin im Alexianer St. Joseph-Krankenhaus Berlin-Weißensee in unserem Podcast vom 6. Mai. Und weil die Erfahrung für alle neue sei, habe unsere Gesellschaft dafür keine Bewältigungsstrategie.
Reale und gefühlte Bedrohung
Da gebe es zu einen eine reale Bedrohung durch einen noch weitgehend unbekannten Feind, für den man weder ein passendes Medikament noch einen Impfstoff zur Verfügung habe. Und da gebe es ein Bedrohungsgefühl durch die Folgen für das eigene Leben. Das führe zu einer großen Verunsicherung und einer Art Kontrollverlust. „Diese Ungeheuerlichkeit macht Angst“, sagt sie.
Menschen, die von Natur aus sensibel sind oder wirtschaftliche bedroht, stehen Hauth zufolge seit Wochen unter Stress. Ist der Stresshormonspiegel dauerhaft hoch, steigt das Risiko für psychosomatische Erkrankungen. Aus Deutschland gibt es dazu zwar noch keine Studien, doch eine chinesische Studie zeigte bereits: Knapp die Hälfte der Untersuchten litt unter Angst, 10 Prozent unter Depressionen, 20 Prozent unter Schlafstörungen und 15 Prozent entwickelten eine Psychosomatik.
Sensiblere Menschen leiden unter Stress – mit weitreichenden Folgen
„Das Risiko, durch chronischen Stress krank zu werden, ist enorm“, sagt Iris Hauth. Wichtig sei darum Prävention gegen Dauerstress. Das Alexianer Krankenhaus hat deshalb eine Hotline für verunsicherte Berliner sowie für das Klinikpersonal eingerichtet. Vier Psychologinnen geben hier Tipps, wie man trotz Krise seelisch gesund und entspannt bleiben kann, wie man die eigene Widerstandsfähigkeit steigern kann.
Manche wachsen auch an der Krise
Manche Menschen sind von Natur aus widerstandsfähiger als andere. Experten sprechen von Resilienz. Solche Menschen haben es leichter in der Corona-Krise, sagt Iris Hauth. „Die sagen sich, das ist jetzt eine neue Situation, der stelle ich mich, da wachse ich dran.“
Doch andere, die weniger resilient sind, werden durch die Krise seelisch gebrochen, entwickeln Ängste, Depressionen und psychosomatische Leiden. „Darauf sollte die Medizin und die Politik einen Blick haben“, fordert die Psychiaterin.
Besonders gefährdet sind jetzt psychisch kranke Menschen. Die Pandemie kann ihre Symptomatik verstärken. „Das sehen wir in der Klinik“, berichtet Hauth.
Die Psychiatrie improvisiert - wie alle
Gleichzeitig wurde aber die Psychiatrie auf Minimalbetrieb umgestellt. Viele niedrigschwellige Angebote wie Beratungsstellen und Tagesstätten sind weggebrochen, im ambulanten Bereich wurden die Kontakte eingeschränkt, und im stationären Bereich werden momentan nur akut Kranke behandelt, Gruppentherapien reduziert und elektive Therapien bis auf Weiteres zurückgestellt. Die Tagesklinik der Alexianer versorgt zurzeit statt 90 nur 20 Patienten. Ein Notbehelf, der nicht zum Dauerzustand werden dürfe, meint Hauth. „Wir überlegen die Maßnahmen, langsam zurückzufahren.“
Momentan bleiben die Psychiater am Alexianer Krankenhaus mit ihren ambulanten Patienten über Telefon und Video in Kontakt. Zudem gibt es eine weitere Hotline für Patienten, deren Behandlung zurückgestellt werden musste.
In der Klinik müssen Mitarbeiter und Patienten in Gesprächssituationen derweil einen Mund-Nasenschutz tragen. „Ungünstig“, sagt die Klinikchefin. Denn die Psychiatrie sei eine Beziehungsmedizin, die von Sprache und von Mimik lebe. „Mimik ist besonders für emotionale Schwingungen wichtig, und das ist im Moment stark eingeschränkt.“
Doch die Krise habe auch gute Seiten: „Wir sehen eine große Solidarität unter den Mitarbeitern und ich hoffe, dass wir Dinge, die sich in den letzten Wochen bewährt haben, beibehalten und dafür Unnützes aussortieren.“