Nur elf Prozent der Arztpraxen sind praktisch barrierefrei

Viele Arztpraxen in Deutschland seien für Rollstuhlfahrer unerreichbar, kritisiert das Deutsche Institut für Menschenrechte. – Foto: ©gradt - stock.adobe.com
In Cafés oder Kneipen sind die Toiletten gerne unten im Keller. Dann überlegt man es sich als Behinderter, ob man sich dort mit Leuten trifft. Schließlich ist es nicht leicht, sich im Rollstuhl von anderen die Treppen rauf und runter tragen zu lassen. Nur ein Beispiel dafür, auf welche Hindernisse Behinderte tagtäglich stoßen – Hindernisse, die Nichtbehinderte überhaupt nicht registrieren. Besonders problematisch ist es, wenn auch die Existenz berührende Bedürfnisse nur schwer – oder gar nicht – erfüllt werden. "Menschen mit Behinderungen sind in besonderem Maß auf medizinische Unterstützung angewiesen“, sagt Beate Rudolf, Direktorin des Deutschen Instituts für Menschenrechte (DIMR). „Aber sie können sie oft nicht in Anspruch nehmen, weil Arztpraxen nicht barrierefrei sind."
Rollstuhlfahrer: „Keine freie Arztwahl möglich“
Nach Erkenntnissen des in Berlin ansässigen Forschungs- und Beratungsinstituts sind lediglich 21 Prozent der Arztpraxen für Rollstuhlfahrer zugänglich. Das Prädikat „barrierefrei“ verdienten nur 11 Prozent der Arztpraxen. Sie erfüllen ein zufriedenstellendes Mindestmaß von mindestens drei Kriterien der Barrierefreiheit. Behinderungen sind vielgesichtig: Sie können körperlicher, geistiger oder seelischer Natur sein. Rollstuhlfahrer stoßen auf andere Hindernisse als Menschen, die gehen können, aber blind oder gehörlos sind – und bringen, was die Barrierefreiheit betrifft, andere Bedürfnisse mit. Allein rund 80.000 Menschen in Deutschland sind gehörlos. Zu Blinden und Sehbehinderten gibt es kaum belastbare Zahlen. „Blinde und sehbehinderte Menschen werden in Deutschland nicht gezählt“, beklagt der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV). Die Zahl der offiziell registrierten Schwerbehinderten in Deutschland gibt das Statistische Bundesamt derzeit mit 7,8 Millionen an.
Ein offizieller Überblick über die Barrierefreiheit von Arztpraxen auf der Grundlage eines bundesweit einheitlich definierten Kriterienkatalogs, der alle Arten von Beeinträchtigungen berücksichtigt, fehle bislang, kritisiert das Institut für Menschenrechte weiter. Wie ungerecht sich fehlende Barrierefreiheit anfühlen kann, schildert ein Rollstuhlfahrer aus Bochum in einem Bericht der Tageszeitung WAZ. „Ich kann mir zum Beispiel nicht frei aussuchen, zu welchem Arzt ich gehe“, sagte der 51-Jährige. „Nicht jeder hat einen Aufzug“.
Ab 2020: Barrierefreiheit von Arztpraxen im Internet abrufbar
Deshalb begrüßt das Institut für Menschenrechte, dass die Kassenärztlichen Vereinigungen die Versicherten ab dem 1. Januar 2020 im Internet nach bundesweit einheitlichen Kriterien über die Barrierefreiheit von Arztpraxen informieren müssen. Grundlage ist eine entsprechende Informationspflicht des im Mai 2019 in Kraft getretenen Terminservice- und Versorgungsgesetz (Paragraf 75 SGB V).
Gemäß der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen ist Deutschland dazu verpflichtet, Menschen mit Behinderungen den gleichen Zugang zur Gesundheitsversorgung zu ermöglichen wie anderen Menschen auch. Sie ist seit März 2009 im Inland geltendes Recht.
DIMR: Wacht über Umsetzung der Behindertenrechte im Inland
Das Deutsche Institut für Menschenrechte ist eine Menschenrechtsorganisation mit Sitz in Berlin. Es forscht interdisziplinär und anwendungsorientiert zu menschenrechtlichen Fragen, beobachtet die Menschenrechtssituation im Inland und berät die Politik. Das Institut begleitet und überwacht zudem die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und der UN-Kinderrechtskonvention. Auftraggeber und Finanzier ist der Bundestag, laut Satzung ist das DIMR aber politische unabhängig.
Der „Tag der Menschen mit Behinderung“ findet seit 1993 immer am 3. Dezember statt. Es ist ein weltweiter Aktionstag, initiiert haben ihn die Vereinten Nationen. Er soll das Bewusstsein der Öffentlichkeit für die Probleme von Menschen mit Behinderung wachhalten und den Einsatz für die Würde, Rechte und das Wohlergehen dieser Menschen fördern.
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