Nordrhein-Westfalen rollt den Contergan Skandal neu auf
Besser spät als nie. Contergan-Geschädigte dürften sich freuen: Mehr als 50 Jahre nach dem Contergan-Skandal will das Land Nordrhein-Westfalen die Rolle der Behörden historisch aufarbeiten lassen. Das teilte das Ministerium für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter gestern mit. Mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung wurde Professor Thomas Großbölting und sein Team vom Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Münster beauftragt.
„Mit der historischen Aufarbeitung wollen wir gegenüber den Opfern von Contergan, die bis heute unter den Folgen leiden, und der gesamten Öffentlichkeit das damalige Handeln des Landes durch ein unabhängiges Institut offen legen", erklärte Ministerin Barbara Steffens. „Eine wissenschaftlich-fundierte Dokumentation des Verhaltens der damaligen Landesregierung existiert bisher nicht."
Das Land sieht sich in der Pflicht, weil der Sitz des Contergan-Herstellers Grünenthal in Nordrhein-Westfalen liegt. Eine Arzneimittelaufsicht im heutigen Sinne habe seinerzeit allerdings nicht bestanden, teilte Steffens Ministerium mit. Das strafrechtliche Ermittlungsverfahren habe im Zuständigkeitsbereich des Justizministeriums gelegen.
In den Contergan Skandal kommt neue Bewegung
Im Rahmen der historischen Aufarbeitung sollen die gesamten archivierten Akten des Strafprozesses inklusive des Schriftwechsels zwischen den verschiedenen Behörden der Staatsanwaltschaft ausgewertet werden. Auch jene Akten, die das Justizministerium betreffen. Ebenso sollen die Akten des seinerzeit für Gesundheit zuständigen Innenministeriums ausgewertet werden, heißt es aus dem Ministerium in Düsseldorf. Das Ministerium geht davon aus, dass im Rahmen der Aufarbeitung weitere verwertbare Quellen gefunden werden.
„Der Contergan-Skandal steht am Beginn eines neuen Verhältnisses zwischen Politik, Gesellschaft und Öffentlichkeit seit den 1960er Jahren“, betont Forschungsleiter Professor Thomas Großbölting. „Wie sich in Verwaltung und Politik die Sensibilität und damit auch der Umgang mit dem neu entstehenden Politikfeld Gesundheit und Arzneimittel entwickelte, das ist wissenschaftlich eine hoch spannende Fragestellung.“
Mehr als 5.000 Menschen durch Contergan schwer geschädigt
Allein in Deutschland wurde durch das Medikament Contergan etwa 5.000 Menschen geschädigt, von denen heute noch etwa 2.400 leben, davon rund 800 in Nordrhein-Westfalen. Der in dem Schlaf- und Beruhigungsmittel enthaltene Wirkstoff Thalidomid hatte nach Einnahme durch werdende Mütter bei den Kindern zu schweren Missbildungen geführt. Der Hersteller Grünenthal wurde dafür strafrechtlich nie belangt. Erst vier Jahre nach Einführung des Mittels im Jahr 1957 musste Grünenthal Contergan schließlich vom Markt nehmen.
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