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„Naturheilkunde ist kein Ersatz, aber ein Zusatz zur konventionellen Krebstherapie”

Dienstag, 13. Februar 2018 – Autor: Anne Volkmann
Immer mehr Menschen interessieren sich für Naturheilkunde, auch Krebspatienten. Gesundheitsstadt Berlin hat mit Dr. Marion Paul, Leitende Oberärztin des Vivantes Brustzentrums, über Naturheilverfahren in der Krebstherapie gesprochen.
Gynäkologin Dr. Marion Paul

Dr. Marion Paul

Frau Dr. Paul, weiß man, wie viele Krebspatienten naturheilkundliche Maßnahmen anwenden?

Paul: Schätzungen zufolge wenden insgesamt etwa 80 Prozent der Menschen in Deutschland Naturheilverfahren an oder interessieren sich dafür. Und Patienten, die an Krebs erkrankt sind, haben ein besonders großes Bedürfnis, zusätzliche Hilfe in den Naturheilverfahren zu suchen. So sind es bei Frauen, die an Brustkrebs erkrankt sind, etwa 90 Prozent, die solche Maßnahmen anwenden.

Das ist ein sehr großer Anteil. Was sind die Gründe für dieses Interesse?

Paul: Im Vordergrund steht für viele der Wunsch, die körpereigenen Abwehrkräfte zu stärken. Außerdem bietet die Naturheilkunde die Möglichkeit, selbst aktiv zu werden, um gesund zu werden, und nicht nur passiv eine Therapie über sich „ergehen zu lassen“. Und gerade Krebspatienten möchten häufig nichts unversucht lassen.

Welche Maßnahmen sind sinnvoll und was können sie bewirken?

Paul: Da gibt es ganz unterschiedliche Möglichkeiten. Hauptsächlich findet die Naturheilkunde in folgenden drei Bereichen ihren Schwerpunkt: Erstens zur Verbesserung der Lebensqualität, zweitens zur Minderung von Nebenwirkungen und drittens zur Prävention vor und nach Krebs. Im Vivantes Brustzentrum bieten wir unseren Patientinnen beispielsweise am Abend vor der Operation einen Lavendelwickel an. Dieser beruhigt und fördert den Schlaf, so dass die Patientinnen vor der Operation zur Ruhe kommen. Auch um die Nebenwirkungen der Chemotherapie zu verringern, sind bestimmte, individuell abgestimmte naturheilkundliche Methoden möglich. So werden bei der Verabreichung der Chemotherapie Verfahren wie Autogenes Training, Muskelentspannung nach Jacobson, Meditation und Achtsamkeitsübungen angeboten.

Welche Methoden gibt es noch?

Paul: Für die Stärkung der Mundschleimhaut und des Zahnfleisches, das sich bei der Chemotherapie oft entzündet, ist das ayurvedische Ölziehen sehr hilfreich. Dabei nehmen die Patienten etwa einen Esslöffel Öl in den Mund und spülen damit cirka eine Viertelstunde die Mundhöhle. Das Öl wirkt antibakteriell und kommt gut in die Zahnzwischenräume. Bewegung an der frischen Luft, Sport und Yoga beugen einem chronischen Müdigkeitssyndrom, der Fatigue, vor oder können dieses abschwächen. Auch die von uns angebotene Nutzung einer Kühlkappe zum Haarerhalt während der Chemotherapie könnte man als ein modernes naturheilkundliches Verfahren ansehen. Bei der Kühlkappe ziehen sich durch die Kälte die Gefäße an der Kopfhaut zusammen, so dass die Haarwurzel geschützt wird und ein Großteil des Haares erhalten werden kann.

Bietet die Naturheilkunde auch Möglichkeiten zu direkten Behandlung oder zur Vorbeugung von Krebserkrankungen?

Paul: Eine in Deutschland sehr verbreitete integrative Therapie zur Behandlung von Krebs ist die Misteltherapie. Viele Patienten, die an Krebs erkrankt sind, berichten über eine Verbesserung ihrer Lebensqualität durch die Mistel. Bei fortgeschrittenem Bauchspeicheldrüsenkrebs konnte eine kleine Studie aus Serbien sogar ein verlängertes Gesamtüberleben nachweisen. Ebenfalls durch Studien bewiesen ist, dass körperliche Bewegung vorbeugend gegen Krebs wirkt, am besten täglich circa 30 Minuten. Die Wahrscheinlichkeit, dass Brustkrebs erneut auftritt, verringert sich durch regelmäßigen Sport signifikant.

Viele komplementärmedizinische Verfahren beruhen auf alten Traditionen. Wie wird die Wirksamkeit dieser Verfahren sichergestellt?

Paul: In den letzten Jahren wird immer stärker versucht, naturheilkundliche Verfahren wissenschaftlich in Studien zu überprüfen. In einigen Bereichen ist dies schon gelungen. Oft können wir hier aber nur auf die Erfahrungsmedizin zurückgreifen. Das liegt vor allem daran, dass es in Deutschland wenig finanzielle Unterstützung gibt, um Studien in komplementärmedizinischen Verfahren zu fördern. Meist kommt ein Teil der Finanzierung von privaten Sponsoren, die ein persönliches Interesse daran haben – zum Beispiel, weil ein Familienmitglied an Krebs erkrankt ist. Auch gemeinnützige Gesellschaften wie die Berliner oder die Deutsche Krebsgesellschaft oder Stiftungen unterstützen die Forschung. Bei schulmedizinischen Medikamenten werden die Kosten hingegen meist von großen Pharmaunternehmen übernommen.

Welche Rolle kommt der Ernährung zu?

Paul: Eine große! Schon Hippokrates postulierte: „Unsere Nahrungsmittel sollen Heil-, unsere Heilmittel Nahrungsmittel sein.“ Unser Brustzentrum arbeitet zurzeit gemeinsam mit Professor Michalsen von der Abteilung für Naturheilkunde des Immanuel-Krankenhauses an einer Studie, die herausfinden soll, ob eine vegane Ernährung oder auch kurzzeitiges Fasten unter Chemotherapie die Nebenwirkungen der Therapie lindern oder sogar dazu führen kann, den Tumor schneller zu verkleinern. Insgesamt ist es sinnvoll, sich gesund zu ernähren und nicht einzelne „gesunde“ Substanzen zu ergänzen. Zu den Grundlagen aller Ernährungsempfehlungen gehört, dass sie bedarfsgerecht ist und alle essentiellen Nährstoffe enthält, dass sie so natürlich wie möglich ist, schonend zubereitet wird, sich nach dem regionalen und saisonalen Angebot richtet und ohne chemische Schönungs- und Konservierungsmittel auskommt. Das Thema Ernährung und Krebs ist allerdings so komplex, dass es den Rahmen dieses Gesprächs sprengen würde.

Gibt es auch mögliche schädliche Nebenwirkungen durch naturheilkundliche Maßnahmen oder unerwünschte Interaktionen, zum Beispiel mit einer Chemotherapie?

Paul: Es kann in der Tat zu Interaktionen kommen, die zu einer Verstärkung oder zu einer Abschwächung der Medikamente führen. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn ein Patient während der Chemotherapie Grapefruitsaft trinkt oder Johanneskraut zu sich nimmt. Grapefruitsaft wird in der Leber von den gleichen Enzymen abgebaut wie die Chemotherapeutika. Dadurch werden die Medikamente langsamer abgebaut und es kann zu höheren Konzentrationen im Blut kommen als gewollt. Auch bei anderen Mitteln kann es passieren, dass die Wirkungen der Medikamente abgeschwächt oder verstärkt werden – was wiederum auch zu stärkeren Nebenwirkungen führen kann. Dies gilt aber auch für die Kombination verschiedener schulmedizinischer Medikamente. Daher ist es so wichtig, alle Therapien aufeinander abzustimmen.

Wenden Krebspatienten auch alternative Heilversuche an, ohne dies mit dem behandelnden Arzt zu besprechen?

Paul: Ja, das kommt vor. Einer der Gründe dafür ist sicherlich, dass sich viele Schulmediziner noch zu wenig mit Naturheilverfahren auskennen und sie ablehnen beziehungsweise sogar davor warnen. Die Patienten verschweigen dann oft, dass sie zusätzlich noch andere Verfahren anwenden oder Nahrungsergänzungsmittel einnehmen. Die Mittel beziehen sie dann häufig vom Heilpraktiker oder auch aus dem Internet. Wichtig ist jedoch die sinnvolle Abstimmung der Verfahren, um eine gute und heilsame Wirkung sowohl der schulmedizinischen Medikamente als auch der naturheilkundlichen Verfahren zu erreichen.

Sehen Sie in den vergangenen Jahren eine Zunahme des Interesses an der Naturheilkunde, auch bei Krebspatienten?

Paul: Ja. Schon im Jahr 2005 hat eine Allensbach-Umfrage ergeben, dass sich die Mehrheit der Bundesbürger eine Kombination von konventioneller Schulmedizin mit Naturheilverfahren wünscht. Und dieser Trend hat eher noch zugenommen. In der Krebstherapie kommt hinzu, dass heute offener darüber gesprochen wird und dass die Menschen heute selbstbestimmter mit ihrer Gesundheit umgehen.

Es gibt auch unseriöse Anbieter. Was raten Sie Patienten, die sich für Naturheilkunde interessieren und seriöse Angebote suchen?

Paul: Es gibt immer mehr wissenschaftlich belegte naturheilkundliche Verfahren, die angewendet werden können. Leider gilt das jedoch noch nicht für alle Methoden. Ich bespreche dann mit meinen Patienten, wie erfolgversprechend und wie risikoarm oder risikoreich eine Methode ist, und danach entscheiden wir uns für oder gegen eine Therapie. Kriterien für unseriöse Therapien sind unter anderem, dass sie häufig mit sehr hohen Kosten verbunden sind, dass sie als „Wundermittel“ angepriesen werden und Heilung versprechen, dass sie als „völlig nebenwirkungsfrei“ deklariert werden und dass sie nicht als Ergänzung, sondern als Alternative zur konventionellen Therapie angeboten werden. Denn grundsätzlich gilt: Die naturheilkundlichen Verfahren sind kein Ersatz, sondern ein Zusatz zur onkologischen konventionellen Therapie.

Dr. Marion Paul ist Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe mit der Zusatzbezeichnung Naturheilverfahren und Leitende Oberärztin des Vivantes Brustzentrums.

Hauptkategorie: Medizin
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