Nach Triage-Urteil: Anästhesisten sehen Therapiefreiheit gefährdet

Triage muss in Deutschland künftig vom Gesetzgeber geregelt werden. Anästhesisten befürchten Eingriffe in die ärztliche Kompetenz – Foto: © Adobe Stock/ fotosr52
Das Bundesverfassungsgericht hat den Gesetzgeber verpflichtet, „unverzüglich“ Vorkehrungen zum Schutz von Menschen mit Behinderungen im Fall einer pandemiebedingten Triage zu treffen. Das oberste deutsche Gericht befand es als verfassungswidrig, dass es bisher keine gesetzliche Regelung gibt, nach welchen Kriterien eine Triage abzulaufen hat. Gerade in einer Situation wie der Corona-Pandemie, in der Intensivbetten und Beatmungsgeräten knapp sind, müsse der Gesetzgeber für rechtliche Sicherheit sorgen, damit Menschen mit Behinderung bei der Entscheidung, ob sie versorgt werden, nicht benachteiligt werden, so das Bundesverfassungsgericht. Das Urteil wurde von Patientenvertretern und vielen Politikern begrüßt.
Ärzteverbände sehen Urteil skeptisch
Doch was sagen Ärzte dazu, wenn ihnen der Gesetzgeber nun Vorgaben für Triage-Situationen macht und damit in ärztliches Handeln eingreift? Der Berufsverband Deutscher Anästhesisten (BDA) und die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) begrüßen zwar grundsätzlich den Richterspruch, sehen es jedoch sehr kritisch, dass ärztliche Therapie nun vom „Bundestag geregelt“ werden soll. Es seien potenzielle Eingriffe in die Therapiefreiheit zu befürchten, schreiben die beiden Ärzteverbände in einer gemeinsamen Mitteilung.
Bei Triage zählen die Heilungschancen
Merkmale wie Religion, Handicap, Herkunft, Impfverhalten oder Sozialstatus würden für keine Ärztin und keinen Arzt eine Rolle spielen bei einer Entscheidung für oder gegen die Fortsetzung einer Therapie, unterstreicht BDA-Präsident Professor Dr. Götz Geldner. Es gehe „einzig und allein um die Heilungschancen, die ein Patient hat“ und die allein aufgrund der medizinischen Kenntnisse und Erfahrungen bewertet werden. Es sei immer schon „undenkbar gewesen, eine Behinderung in einem Therapieplan zum Maßstab zu machen!“
Die Entscheidung für oder gegen die Fortsetzung einer Behandlung auf der Intensivstation werde außerdem niemals von einem Arzt allein, sondern immer in einem größeren Team von Experten getroffen, macht DGAI-Präsident Professor Dr. Frank Wappler deutlich, „so dass wirklich alle relevanten Entscheidungskriterien gesammelt und abgewogen werden". Dieses grundlegende Prinzip in der Intensivmedizin habe auch Gültigkeit in der Corona-Pandemie.
Dialog gefordert
Da nun der Gesetzgeber gezwungen ist, Vorgaben zu machen, sehen die beiden Verbände die Lösung nur in einem gemeinsamen Dialog. „Gesetzliche Präzisierungen der ärztlichen Behandlung sollten gemeinsam mit uns gestaltet werden." Auch Politiker, Mediziner, Juristen und Bürger sollten in die Diskussion miteinbezogen werden, damit „die neuen Regeln am Ende verstanden und eine breite Akzeptanz finden."
Gleichzeitig sehen BDA und DGAI den eklatanten Personalmangel in den Kliniken und insbesondere auf den Intensivstationen als Kern des Problems. Würde mehr Personal zur Verfügung stehen ließen sich aus ihrer Sicht eine Triage sowie auch die Priorisierung und Verschiebung von Operationen verlässlich vermeiden.
Trotz der raschen Ausbreitung der Omikron-Variante gehen die beiden Verbände nicht davon aus, dass eine Triage in dieser Corona-Pandemie überhaupt noch angewendet werden muss. Die Zahl der Covid-19-Patienten auf den Intensivstationen ginge derzeit bundesweit leicht zurück. Verlegungen von Patienten aus Regionen mit vollständig belegten Betten in Gebiete mit freien Kapazitäten seien immer noch möglich.