Die Gewebespende braucht keinen Hirntod

Wer mit Organnspende und Hirntoddiagnostik hadert, kann nach seinem (Herz-Kreislauf-) Tod Gewebe spenden. Die guten Absichten sollten zu Lebzeiten dokumentiert werden
Nach dem eigenen Tod noch etwas Gutes tun: Umfragen zufolge sind dreiviertel der Deutschen zu einer Organspende bereit. Doch die Realität sieht anders aus. Nur ein Viertel der Bundesbürger hat diesen Willen auch in einem Organspendeausweis dokumentiert. Ein Grund für das Auseinanderdriften von Wunsch und Wirklichkeit ist der Hirntod, der einer Organspende vorausgehen muss. Zwar bedeutet dieser „Tod“, dass es zu einem unumkehrbaren Hirnfunktionsausfall gekommen ist. Gleichzeitig wird der menschliche Körper jedoch mit Maschinen am Leben gehalten: Das Herz schlägt, der Körper ist warm und durchblutet und zeigt spontane Reflexe. Da fällt es vielen Menschen schwer, diese scheinbar schlafenden Lebewesen tatsächlich als Verstorbene zu begreifen. Die Diskussion um die Organspende weckt darum auch uralte Ängste, bei lebendigem Leibe begraben oder „ausgeschlachtet“ zu werden. Trotz Aufklärungskampagnen ist es Politik und Ärzteschaft bisher nicht gelungen, die Bedenken der Bevölkerung auszuräumen.
Gewebespende bis zu 72 Stunden nach dem Herz-Kreislauf-Tod möglich
Was viele Menschen nicht wissen: Mit einer Gewebespende kann man ebenfalls schwerkranken Menschen helfen, und zwar nach einem ganz normalen Herz-Kreislauf-Tod. Ein Hirntod ist nicht nötig. Gespendet werden können Augenhornhäute, Herzklappen, Blutgefäße, Knochen, Weichteilgewebe wie Knorpel, Sehnen, Bänder und Haut. Diese Gewebe werden nicht wie Organe durchblutet und können so auch bis zu drei Tage nach dem Herz-Kreislauf-Tod gespendet werden. Gewebespenden sind auch nach vielen Krebserkrankungen oder in einem hohen Lebensalter noch möglich.
Mit gespendetem Gewebe werden schwerheilende Wunden versorgt
Das entnommene Gewebe kann etwa für Schwerverletzte eingesetzt werden oder für Krebskranke mit schwer heilenden Gewebs- und Knochendefekten. Gespendete Haut dient wiederum für die Versorgung von großen Brandwunden und Augenhornhaut rettet Augenlicht.
Nach dem Jahresbericht der Deutschen Gesellschaft für Gewebetransplantation (DGFG) waren im vergangenen Jahr 87,2 Prozent aller Gewebespender Herz-Kreislauf-Verstorbene. Mehr als die Hälfte der postmortalen Gewebespender war 75 Jahre alt oder älter.
Über 5.000 Kranke mit Gewebe versorgt
Im Jahr 2018 wurde demnach fast 3.000-mal einer Gewebespende zugestimmt. Die DGFG konnte in 2018 insgesamt 2.732 Gewebeentnahmen realisieren, das sind über 16 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Dadurch konnte die gemeinnützige Organisation 5.517 Menschen mit Gewebe versorgen, darunter 3.672 Menschen mit einer Augenhornhaut.
Eine Augenhornhautspende kann bis zu 72 Stunden nach Todeseintritt durchgeführt werden, was mehr Zeit für die Organisation, die Aufklärung der Angehörigen und die Entnahme bedeutet. Bei Herzklappen und Blutgefäßen ist das Zeitfenster mit 36 Stunden wesentlich kleiner - der Bedarf in der Transplantationsmedizin jedoch bedeutend hoch. Experten gehen davon aus, dass jedes Jahr mehr als 500 Herzklappen und Blutgefäße benötigt werden, um Patienten operativ versorgen zu können. 124 Herzklappen und 75 Blutgefäße konnte die DGFG zur Transplantation vermitteln. Diese Gewebe stammten bisher überwiegend aus der Organspende.
Aktuell ist die DGFG dabei, an mehreren Standorten ein Programm zur Spende kardiovaskulärer Gewebe bei Herz-Kreislauf-Verstorbenen zu etablieren, um den Spenderpool zu erweitern und so die Versorgung der oft sehr eingeschränkten Patienten zu verbessern.
Zu wenig Aufklärung über die Gewebespende
DGFG-Geschäftsführer Martin Börgel glaubt, dass zu wenige Menschen von der Möglichkeit einer Gewebespende wissen. Bei der Diskussion und Aufklärung über die Organspende falle diese Option unter den Tisch. „Dass der Wille zur Organ- und Gewebespende in der Familie bekannt ist, dafür ist jeder einzelne von uns selbst verantwortlich. Regelmäßig informieren die BZgA und die Krankenkassen die allgemeine Bevölkerung dazu. Dabei vermissen wir jedoch umfassende Informationen zur Gewebespende“, kritisiert er. Hier bestehe ein großes Aufklärungsdefizit. „Aktuell können wir bei weitem nicht davon ausgehen, dass im Falle einer 'stillen' Zustimmung (kein Widerspruch eingelegt und keine dokumentierte Entscheidung) der- oder diejenige umfassend über die Gewebespende informiert ist.“
Lebendspende
Neben der postmortalen ist eine Gewebespende auch zu Lebzeiten in zwei Fällen möglich. Frauen können im Rahmen einer Kaiserschnittgeburt ihre Plazenta und die darin enthaltene Amnionmembran spenden. Mit aufbereitetem Amnion können chronische Wunden, Brandwunden und defekte der Augenhornhaut behandelt werden. Darüber hinaus können voll funktionsfähige Herzklappen im Rahmen einer Herztransplantation gespendet werden. Anders als bei der Nierenlebendspende gehen die Spender dabei selbst kein gesundheitliches Risiko ein.
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