Atropin schützt Kinder am besten vor Kurzsichtigkeit
Zu den am stärksten zunehmenden Augenproblemen weltweit gehört die Kurzsichtigkeit (Myopie). In Europa sind derzeit schon 47 Prozent aller 25-jährigen betroffen, in einigen asiatischen Ländern bis zu 96 Prozent der 20-jährigen. Die Weltgesundheitsorganisation zählt Myopie inzwischen zu den fünf Augenerkrankungen, deren Eindämmung höchste Priorität hat.
Kurzsichtigkeit ist ein Hauptrisikofaktor für ernste Augenleiden wie Makuladegeneration, Netzhautablösung und Glaukom. „Es ist deshalb vordringlich, die Sehschwäche zu stoppen, wenn sie beginnt, also im Grundschulalter“, betont Prof. Wolf Lagrèze von der Klinik für Augenheilkunde am Universitätsklinikum Freiburg.
Kursichtigkeit nimmt durch Computer- und Smartphone-Nutzung zu
Zu den Ursachen für das Anwachsen der kindlichen Kurzsichtigkeit zählen die Forscher neben genetischen Anlagen ein verändertes Freizeit-, Lern- und Arbeitsverhalten. „Verstärkte Naharbeit durch Lesen, Computernutzung oder Smartphone fördert Myopie“, erläutert Lagrèze. „Das gleiche gilt für die Tendenz, sich immer weniger draußen unter freiem Himmel aufzuhalten.“
Um den Anstieg zu stoppen und umzukehren, setzen Experten korrigierende Brillengläser, Kontaktlinsen, natürliches Tageslicht und eben auch Atropin-Augentropfen ein. Atropin ist ein Nervengift, das aus der Tollkirsche gewonnen wird und in medizinisch unbedenklicher Dosis häufig in der Medizin angewendet wird – etwa, um die Pupillen weit zu stellen.
Atropin schützt Kinder am besten vor Kurzsichtigkeit
Wie wirkungsvoll die Maßnahmen im Einzelnen sind, hat die Meta-Studie ausgewiesen. Sie wertete 16 Untersuchungen mit überwiegend asiatischen Kindern aus. Danach ergibt sich folgende Abstufung in der Wirksamkeit: Atropin-Tropfen hochdosiert verhindern eine Myopie-Zunahme von 0,68 Dioptrien (D) pro Jahr, dicht gefolgt von niedrigdosierten Atropin-Tropfen mit 0,53 D. Es folgen Kontaktlinsen mit 0,21 D jährlich. Zwei Stunden Tageslicht täglich schützen vor einem Verlust von 0,14 D, Tageslicht liegt damit gleichauf mit Gleitsichtbrillen.
„Dass Atropin Kurzsichtigkeit effektiver bremst als Kontaktlinsen oder Tageslicht, deckt sich mit unseren bisherigen Annahmen“, kommentiert Lagrèze. Dennoch werfe die Meta-Analyse eine wichtige Frage auf. „Die Behandlungen könnten bei asiatischen Kindern besser anschlagen als bei europäischen“, berichtet der DOG-Experte. Daher müssten dringend Studien mit deutschen Kindern auf den Weg gebracht werden.
Auch Tageslicht-Therapie funktioniert
„Bis hier Ergebnisse vorliegen, sind Schulen und Eltern gefordert, bei Kindern auf eine ausreichende Versorgung mit Tageslicht zu achten“, so Lagrèze. Wie gut die Tageslichttherapie funktioniert, zeigt das Beispiel Taiwan. Dort müssen Kinder während der Schulzeit täglich zwei Stunden ins Freie, nach 30 Minuten Lesen folgen zehn Minuten Pause von der Nahsicht. Ergebnis: In Taiwan ist die kindliche Kurzsichtigkeit seit 2012 wieder rückläufig.
Augenärzte in Deutschland verordnen bereits jetzt schon vielfach Atropin im sogenannten Off-Label-Use. Kinderophthalmologe Lagrèze, der die Tropfen immer häufiger verschreibt, berichtet von ermutigenden Erfahrungen mit dem Präparat. „Die ersten Rückmeldungen sind positiv, das Medikament ist in der geringen Konzentration gut verträglich“, so Lagrèze. Er empfiehlt, Atropin in einer Konzentration von 0,01 Prozent über mehrere Jahre vor jedem Schlafengehen jeweils mit einem Tropfen in beide Augen zu geben.
Foto: chihana/fotolia.com