Wissenschaftler fordern ethische Richtlinien für Gehirn-Computer-Schnittstellen
Nein, komplexe Gedanken können Computer noch nicht lesen. Aber die technologische Entwicklung geht so schnell, dass auch das vorstellbar ist. Wer hätte vor 30 Jahren gedacht, dass Patienten mit Locked-In-Syndrom mithilfe von Hirnsignalen Briefe buchstabieren können? Oder dass vollständig Gelähmten im complete locked-in state (CLIS) einfache Ja/Nein Antworten geben können? Oder Querschnittsgelähmte mithilfe eines hirngesteuerten Exoskeletts selbstständig essen und trinken? All das ist heute möglich dank sogenannter Gehirn-Computer-Schnittstellen.
Wer haftet, wenn etwas schiefgeht?
Wissenschaftler, die an den atemberaubenden Entwicklungen beteiligt waren und sind, melden nun aber Bedenken an. Denn Fragen des Datenschutzes, der Haftung und der Sicherheit seien noch nicht geklärt, schreiben die die Experten für Neurophysiologie, Neurotechnologie und Neuroethik einem Beitrag für das Fachmagazin Science mit dem Titel „Help, Hope and Hype“. Ethische Richtlinien für den Einsatz von Gehirn-Computer-Schnittstellen seien darum zwingend erforderlich. Solche Richtlinien können nach Ansicht der Autoren Forschern, Entwicklern und Anwendern auf dem Weg zum alltäglichen Einsatz der hirngesteuerten Systeme helfen, verantwortungsbewusst mit ethischen Aspekten der Technologie umzugehen.
„Die technologischen Fortschritte im Bereich der Gehirn-Computer-Schnittstellen entwickeln sich derzeit so rasant, dass es höchste Zeit ist, rechtliche und ethische Rahmenbedingungen zu definieren und durchzusetzen“, fordert Jens Clausen, Neuroethiker an der Pädagogischen Hochschule Freiburg und Mitglied des Internationalen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften an der Universität Tübingen.
Schutz vor Brainhacking
Die Wissenschaftler sind zum Beispiel der Meinung, dass aufgezeichnete Hirnsignale vor unerlaubtem Zugriff geschützt werden müssen. Außerdem werfen sie die Frage auf, wer die Verantwortung für Fehler übernimmt, die bei der Übersetzung von Hirnaktivität in Steuersignale auftreten können. Als zentrale Forderung mahnen die Autoren hier eine „Veto“-Funktion an, um unbeabsichtigte Steuerbefehle der Gehirn-Computer-Schnittstelle zu unterbrechen. „Der Mensch muss zu jedem Zeitpunkt in der Lage sein, die Maschine zu stoppen“, sagt der Tübinger Psychiater und Neurowissenschaftler Surjo R. Soekadar. Auch das von Soekadar entwickelte System für Querschnittsgelähmte verfügt über eine Veto-Funktion, die über eine bestimmte Augenbewegung ausgelöst wird. Elektrische Hirnsignale, die von der Kopfoberfläche abgeleitet werden, können für diese Funktion noch nicht zuverlässig genutzt werden.
Weitere Forderungen sind:
- Schutz vor unerlaubtem Auslesen aufgezeichneter Signale: Wie in einem Flugzeug sollten alle Biosignale und Steuerbefehle in einer Black-Box für einen begrenzten Zeitraum gespeichert werden. Diese Daten könnten dann für haftungsrechtliche Fragen herangezogen werden
- Verschlüsselung sämtlicher Daten, um ein sogenanntes „Brainhacking“ zu unterbinden. Besonders gefährdet für die Manipulation des Systems zur gezielten Beeinflussung von Hirnfunktionen oder Verhalten sind implantierbare Systeme oder Gehirn-Computer-Schnittstellen, die Gehirngewebe auch direkt stimulieren können.
Eine Frage der Ethik ist nach Ansicht der Wissenschaftler auch der Umgang mit Hoffnungen, die bei Patienten und ihren Angehörigen geweckt werden. Aufsehenerregende Demonstrationen hirngesteuerter Systeme führten oft zu überzogenen Erwartungen, mahnen die Experten „Die Medien sowie wirtschaftliche Profiteure sind deshalb in der Verantwortung, den Nutzen, aber auch Grenzen und Risiken dieser Technologien, ausgewogen darzustellen.“
Foto: © monsitj - Fotolia.com