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„Wissen, dass Covid ein Chronisches Fatigue Syndrom auslösen kann”

Samstag, 8. Mai 2021 – Autor:
Chronische Fatigue gehört zu den häufigen Langzeitfolgen einer Covid-Infektion. Oft bessert sich der zermürbende Erschöpfungszustand nach einigen Wochen oder Monaten von allein. Doch einige Patienten entwickeln das Vollbild einer myalgischen Enzephalopathie/ Chronisches Fatigue Syndrom (ME/CFS). Gesundheitsstadt Berlin hat mit Professor Carmen Scheibenbogen von der Charité über die Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten des schweren Krankheitsbilds gesprochen.
Fatigue-Spezialistin Prof. Carmen Scheibenbogen von der Charité

Fatigue-Spezialistin Prof. Carmen Scheibenbogen von der Charité – Foto: © Charité

Frau Professor Scheibenbogen, viele Patienten klagen nach einer Covid-Infektion über einen lang anhaltenden Erschöpfungszustand. Handelt es sich dabei tatsächlich um das Chronische Fatigue Syndrom bzw. eine myalgische Enzephalopathie, wie die Erkrankung auch genannt wird?

Scheibenbogen: Chronische Fatigue gehört in der Tat zu den vielen Langzeitfolgen einer Covid-Erkrankung. Fatigue ist aber erst einmal nur ein Symptom, das häufig auftritt, wenn das Immunsystem aktiv war und noch nicht zur Ruhe gekommen ist. Oft lässt sich keine andere Ursache als ebendiese finden und die Symptome bessern sich auch in vielen Fällen nach einigen Wochen oder Monaten. Wenn man sich die Zahlen anschaut, dann haben nach vier Wochen etwa 30 Prozent der Covid-Patienten noch eines oder mehrere Symptome, nach sechs Monaten sind es noch zehn Prozent. Davon entwickelt wiederum nur ein kleiner Teil der Patienten ein Chronisches Fatigue Syndrom. Das ist eine eigenständige, sehr schwere Erkrankung, die frühestens nach sechs Monaten diagnostiziert werden kann.

Haben Sie eine Erklärung, weshalb Covid-19 ein Chronisches Fatigue Syndrom auslösen kann?

Scheibenbogen: Das Chronische Fatigue Syndrom kann sich nach vielen schwereren Virusinfektionen entwickeln, beispielsweise nach einer Grippe. Und dass eine Infektion wie Covid ein Auslöser sein kann, das hatten wir natürlich schon befürchtet. Wir haben deswegen im Spätsommer eine spezielle Sprechstunde für Post-Covid-Patienten eingerichtet, die anhaltend schwer krank sind mit Fatigue und vielen weiteren Beschwerden. Inzwischen hat sich unsere Vermutung bestätigt: Ein nicht unerheblicher Teil unserer Patienten zeigt das Vollbild einer CFS.

Hatten diese Patienten denn zuvor einen schweren Covid-Verlauf?

Scheibenbogen: Es sind fast ausschließlich jüngere Menschen, die keine Lungenentzündung hatten und nicht stationär behandelt werden mussten. Die waren zwar zwei Wochen lang ziemlich krank mit Fieber und schwerem Krankheitsgefühl, hatten aber definitionsgemäß einen milden Verlauf. Ältere Menschen, die ja häufiger von schweren Covid-Verläufen betroffen sind, entwickeln kein Chronisches Fatigue Syndrom, die Altersgrenze liegt ungefähr bei 50 Jahren.

Was passiert da im Körper der jungen Menschen?

Scheibenbogen: Wir beschäftigen uns schon lange mit dem Konzept, dass CFS eine Autoimmunerkrankung ist. Eine große Rolle hierbei spielt ein natürlich vorkommender Antikörper, der sogenannte Adrenalin-Rezeptor-Antikörper. Dieser Antikörper hilft dem Botenstoff Adrenalin bei der Steuerung von Funktionen des autonomen Nervensystems, etwa wie schnell das Herz schlägt, wie schnell wir atmen und auch wie sich unser Blut im Körper verteilt. Man weiß schon lange, dass sich solche Antikörper nach Infektionen in ihrer Funktion verändern können. Sie binden dann ein bisschen anders an den Rezeptor und stören so die Funktion, die sie eigentlich unterstützen sollen. Das System wird sozusagen durch eine fehlgesteuerte Immunantwort falsch ausgerichtet. Das könnte zum Beispiel erklären, warum die Blutverteilung im Körper nicht mehr klappt und dadurch Schwindel, ein benebelter Kopf oder starke Muskelschmerzen auftreten. Der Sauerstoff kommt schlichtweg nicht mehr dorthin, wo er gebraucht wird. Am längsten kennt man solche Adrenalin-Antikörper von Herzerkrankungen. Wir forschen seit einigen Jahren daran, und sehen dass die Auto-Antikörper bei CFS-Patienten verändert sind auch mit den Symptomen korrelieren.

CFS ist also eine Autoimmunerkrankung?

Scheibenbogen: Bei Patienten, die nach einer Infektion CFS entwickeln, ist das sehr wahrscheinlich so. Darüber hinaus gibt es Menschen, die die Erkrankung nach einem schweren psychischen oder körperlichen Trauma entwickeln, etwa nach einem Autounfall mit HWS-Verletzung. Auch da geht man davon aus, dass die Steuerung über Adrenalin gestört ist, dass es zu einer Überaktivität der Stresssteuerung kommt. Am Ende führt das zum gleichen Krankheitsbild wie bei einem post-infektiösen CFS. Die Ursache ist jedoch eine andere und es handelt sich in diesen Fällen nicht um eine Autoimmunerkrankung.

Und wie ist das bei Patienten nach einer Covid-Infektion?

Scheibenbogen: Auch bei Post-Covid-Patienten mit CFS spricht vieles für eine Autoimmunerkrankung. Es gibt mittlerweile eine ganze Reihe von Studie, in denen viele verschiedene Auto-Antikörper bei den Patienten nachgewiesen wurden. Das verwundert nicht, denn das ist ein Virus, das nahezu jede Körperzelle und jedes Organ befallen kann und eine starke Immunantwort hervorruft. Das ist genau die Situation, die solche Autoimmunerkrankungen auslösen kann. Ob jetzt die Adrenalin-Antikörper nach COVID bei CFS eine Rolle spielen, das wissen wir noch nicht. Was bei COVID sicher noch hinzukommt, ist eine Entzündung der Gefäße durch das Virus. Die Gefäßentzündungen könnten längerfristig zu Gefäßfunktionsstörungen führen und die Problematik der Blutverteilungsstörung verschärfen. Das sind alles Dinge, die wir momentan untersuchen und die sich auch andere Gruppen sich anschauen.

Welche Behandlung können Sie den Patienten anbieten?

Scheibenbogen: Wir können momentan leider nur die Symptome behandeln, Kreislaufprobleme, Schmerzen, schwere Schlafstörungen, Mangelzustände wie einen Vitamin-D-Mangel, Folsäure- oder Selenmangel. Ganz wichtig ist auch, Überlastungen zu vermeiden, die immer wieder zu schweren Krankheitsschüben führen und Entspannungstechniken zu lernen zum Beispiel über Atemübungen. Das ist leichter gesagt als getan, denn es sind ja überwiegend junge Menschen, die arbeiten wollen oder Kinder betreuen müssen. Aber ein wichtiges Therapieprinzip am Anfang ist, dass man erst mal Ruhe hereinbringt.

Und das hilft?

Scheibenbogen: Vielen Patienten, bei denen wir die CFS-Diagnose stellen mussten, geht es jetzt ein Jahr nach der Infektion ein Stück besser. Aber es ist eine chronische Erkrankung, und einige unserer Patienten sind anhaltend schwer erkrankt. Das ist eine extrem frustrierende Situation. Wir müssen deshalb Medikamente entwickeln, die an den Ursachen ansetzen. Dafür mache ich mich schon lange stark.

Gibt es nicht schon Medikamente, die bei CFS wirksam sind?

Scheibenbogen: Eine Gruppe aus Norwegen hat gezeigt, dass der Antikörper Rituximab und das Zytostatikum Endoxan bei vielen Patienten wirksam sind. Diese Medikamente sind jedoch für die Diagnose CFS nicht zugelassen und wir können sie unseren Patienten nicht verschreiben. Es gibt außerdem ein Verfahren, mit dem man alle Antikörper aus dem Blut herauswaschen kann. Das funktioniert ähnlich wie eine Dialyse. Wir haben letztes Jahr zwei kleinere Therapiestudien damit gemacht und gesehen, dass es bei vielen Patienten zu einer Besserung geführt hat. Die Therapie muss man aber oft wiederholen und mit Medikamenten kombinieren und ist noch nicht einsatzbereit. In diese Richtung wollen wir Medikamente entwickeln.

Wenn Covid ein CFS auslösen kann, kann dann nicht auch eine starke Impfreaktion dasselbe tun?

Scheibenbogen: Diese Frage wurde schon oft gestellt. Bisher gibt es dafür überhaupt keine Anhaltspunkte, eher im Gegenteil: Eine Studie aus Norwegen konnte klar zeigen, dass die Grippe CFS auslösen kann, aber nicht die Impfung. Prinzipiell halte ich es zwar nicht für ausgeschlossen, dass so etwas mal passieren könnte, denn auch nach einer Impfung wird das Immunsystem ja hochgefahren, aber viel schwächer als nach einer Infektion. Aber wie gesagt, es gibt dazu überhaupt keine Daten und ich halte das Risiko für äußerst gering. Gesichert ist dagegen, dass eine Infektion mit SARS-COV-2 das Chronische Fatigue Syndrom auslösen kann. Deswegen kann ich nur jedem dringend zu einer Covid-Impfung raten.

Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen ist Leiterin der Immundefekt-Ambulanz und des Fatigue Centrums an der Charité Berlin. Dort gibt es neuerdings auch eine Post-COVID-Fatigue Sprechstunde.

Hauptkategorien: Medizin , Corona
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