Wird in Deutschland zuviel an der Wirbelsäule operiert?
„Die Mengenprobleme sind nicht neu“, sagt Professor Fritz Uwe Niethard, Generalsekretär der medizinischen Fachgesellschaften DGOOC und DGOU von Orthopäden, orthopädischen Chirurgen und Unfallchirurgen in Deutschland. Bei einer Veranstaltung der Verbände der Krankenhausdirektoren Deutschlands (VKD) und der Diagnostica-Industrie (VDGH) in Berlin rückte er die bekannten Zahlen jedoch in ein anderes Licht.
Deutschland belegt in dem internationalen Vergleich der OECD-Staaten Platz 1 bei Hüft-Totalendoprothesen (TEPs). Es liegt jedoch auch bei der stationären Krebsbehandlung auf Rang 1, so Niethards Hinweis. „Dennoch wird keiner diskutieren, ob das Überversorgung ist“, sagte der Orthopäde. Er betrachtet es als „eine gesellschaftliche Frage, welche Rate an Eingriffen für eine entwickelte Nation richtig ist“.
Immer mehr Revisionen nach Knie-TEP
Mehr Fragen als der internationale Vergleich wirft jedoch die zeitliche Entwicklung auf. Die Mengenentwicklung bei verschiedenen Eingriffen zeigt der Versorgungsatlas der DGOOC auf Basis von AOK-Daten. Demnach ist die Zahl der Hüft-TEPs zwischen 2005 und 2011 um drei Prozent zurückgegangen. Gleichzeitig ist den Angaben zufolge die Zahl der über 65-Jährigen um vier Prozent gestiegen. Bei Knie-TEPs gab es laut Niethard im gleichen Zeitraum eine Zunahme um neun Prozent. Allerdings stiegen die Revisionen bei Knie-TEPs um satte 43 Prozent. Das deutet aus Sicht des Orthopäden auf ein Qualitätsproblem hin. „Da ist möglicherweise die Indikation nicht ganz richtig“, sagte Niethard. Das fordere die Qualitätssicherung heraus.
Wirbelsäuleneingriff: 136 Prozent mehr in sechs Jahren
Regelrecht beunruhigt sind die Fachgesellschaften Niethard zufolge jedoch über die Entwicklung in der Wirbelsäulenchirurgie. Die Eingriffe an der Wirbelsäule legten zwischen 2005 und 2011 um 136 Prozent zu. „Das ist allein mit demografischer Entwicklung und technischem Fortschritt nicht mehr zu erklären“, sagte Niethard. Bandscheibeneingriffe verzeichneten den Angaben zufolge ein Plus von 56 Prozent, die Zahl der Wirbelversteifungen (sogenannte Spondylodesen) schoss gar um 227 Prozent in die Höhe, und die Zahl der Zweiteingriffe wuchs um 115 Prozent.
Über die Ursachen dieser Entwicklung kann vorerst nur spekuliert werden. „Es gibt unserer Meinung nach Fehlanreize durch das DRG-System“, sagte Niethard. Die Vergütung nach Fallpauschalen könne zu Rosinenpickerei führen. Der Generalsekretär wies zudem auf eine „Unwucht zwischen den Sektoren“ hin. Ein niedergelassener Orthopäde erhalte im Schnitt pro Jahr für die Behandlung eines Patienten 120 Euro. Eine Spondylodese sei mit 12.000 Euro vergütet.
Niethard verwies aber auch auf große regionale Unterschiede. Unter anderem werden nach seinen Angaben in Bayern deutlich mehr Eingriffe an der Wirbelsäule vorgenommen als in Baden-Württemberg. Er schloss strukturelle Gründe nicht aus. In Bayern arbeiten Niethard zufolge erheblich mehr Belegärzte an Kliniken als in Baden-Württemberg.
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