
Dr. Stephan Kurz
Dr. Kurz, wie viele Menschen erleiden eine akute Aortendissektion?
Kurz: Zu dieser Frage haben meine Arbeitsgruppe und ich eine Untersuchung durchgeführt, die im vergangenen Jahr im „International Journal of Cardiology“* veröffentlicht wurde. Bisher hieß es von Seiten des Statistischen Bundesamtes, dass etwa drei bis vier von 100.000 Einwohnern pro Jahr eine akute Aortendissektion erleiden. Wir wissen jedoch, dass ein Großteil der Betroffenen vor Eintritt eines Arztes verstirbt und gar nicht mehr diagnostiziert wird. Aufgrund verschiedener Daten konnten wir zeigen, dass die akute Aortendissektion mit einer Wahrscheinlichkeit von knapp 12 Fällen pro 100.000 Einwohnern vorkommt. Das heißt, dass in Berlin und Brandenburg jedes Jahr etwa 750 Fälle auftreten.
Was passiert bei einer akuten Aortendissektion?
Kurz: Es kommt zu einer Aufspaltung der Wandschichten der Aorta. Besonders gefährlich ist die Typ A-Dissektion, bei welcher der aufsteigende Teil der Aorta unmittelbar am Herzen betroffen ist. Durch die Dissektion dringt Blut in den Spalt zwischen den Gefäßwandschichten und vergrößert diesen immer weiter. Dabei können Gefäße, die von der Aorta zu anderen Organen wie dem Gehirn führen, verschlossen werden. Auch kann es zu einer Ansammlung von Blut im Herzbeutel kommen: Das Herz wird zusammengedrückt und es kommt zum tödlichen Herz-Kreislauf-Versagen. Ohne Behandlung versterben innerhalb der ersten 48 Stunden über 75 Prozent der Betroffenen
Wenn grundsätzlich eine Behandlung möglich ist – warum sterben dann trotzdem noch so viele Menschen an den Folgen?
Kurz: Für die Behandlung wird unter anderem ein extrem großer technischer Aufwand und entsprechend geschultes Personal benötigt. In Berlin und Brandenburg ist das DHZB das Zentrum, dass über 95 Prozent der akuten Aortendissektionen operiert und somit über die größte Erfahrung in diesem Bereich verfügt. Doch viele der Betroffenen kommen hier gar nicht erst an. Das hat verschiedene Gründe, unter anderem die Tatsache, dass das Erkrankungsbild häufig nicht richtig oder zu spät diagnostiziert wird.
Warum ist die Diagnose so schwierig?
Kurz: Die Symptome sind nicht immer eindeutig und können selbst von Notfallmedizinern zunächst als Herzinfarkt gedeutet werden. Meist sorgt erst eine Untersuchung mit dem Computertomographen dann für Klarheit. Besonders problematisch ist es, wenn die Aortendissektion wie ein Herzinfarkt behandelt wird. Denn beim Herzinfarkt werden unter anderem Blutverdünner eingesetzt, die jedoch bei einer Aortendissektion fatale Folgen haben können.
Wie viele Patienten könnten Ihren Berechnungen zufolge bei adäquater Behandlung gerettet werden?
Kurz: Leider können nicht alle Betroffenen gerettet werden, weil viele sofort versterben – noch bevor ein Arzt eintrifft. Doch wir gehen davon aus, dass etwa 250 Menschen mehr pro Jahr überleben könnten, wenn sie rechtzeitig diagnostiziert und entsprechend behandelt werden würden – und das nur in Berlin/Brandenburg. Bundesweit können wir also von mehreren tausend Menschen ausgehen, die überleben könnten. Und wir sprechen hier von Menschen, die im Durchschnitt Ende 50 sind, also mitten im Leben stehen.
Sie haben am DHZB bereits im Jahr 2015 das Projekt „Aortentelefon“ ins Leben gerufen. Was genau passiert da?
Kurz: Häufig werden die Patienten ja zunächst mit Verdacht auf Herzinfarkt in ein anderes Krankenhaus gebracht. Wird dort die Diagnose Aortendissektion gestellt, können die Behandler das Aortentelefon anrufen, eine Hotline, bei der rund um die Uhr Fachkräfte zur Beratung zur Verfügung stehen. Wir bereiten dann den Notfalltransport sowie die Operation im Herzzentrum vor. Zudem haben wir die technische Möglichkeit, die Ergebnisse der Computertomographie per Bilddatentransfer sofort zu uns schicken lassen. Damit sparen wir viel Zeit. Zudem beraten wir die Ärzte vor Ort bei der Behandlung – also beispielsweise, wie der Blutdruck eingestellt werden sollte und welche Medikamente gegeben werden können.
Wie funktioniert die Kooperation mit den Krankenhäusern?
Kurz: Das Programm wird sehr gut aufgenommen, alle Krankenhäuser kennen die Rufnummer des Aortentelefons und wissen, dass sie dort sofort Unterstützung erhalten.
Gab es zu Beginn des Projekts keine Skepsis?
Kurz: Doch, die gab es. Doch mittlerweile sind viele Kollegen auch dankbar für die Zusammenarbeit, genauso wie wir. Wir wollen ja niemanden bevormunden, sondern für eine größere Sicherheit im Umgang mit dem insgesamt ja doch eher seltenen Krankheitsbild Aortendissektion sorgen – und natürlich Leben retten.
Welche Auswirkungen hatte das Projekt bisher?
Kurz: Zum einen kommen die Patienten schneller hier an, zum anderen sind sie dann schon besser vorbereitet. Wir konnten durch das Aortentelefon die Sterblichkeit der Patienten deutlich senken, wollen dies aber noch weiter verbessern. Zudem könnten auch bundesweit und nicht nur in Berlin und Brandenburg mehr Menschen gerettet werden, wenn weitere ähnliche Projekte verwirklicht werden würden.
Welche Menschen sind besonders gefährdet für eine Aortendissektion?
Kurz: Die größten Risikofaktoren sind ein erhöhter Blutdruck, Arteriosklerose und auch das Vorliegen eines Aneurysmas. Es gibt auch eine genetische Disposition, beispielweise bestimmte erbliche Bindegewebserkrankungen wie das Marfansyndrom oder das Ehlers-Danlos-Syndrom. Die Senkung des Blutdrucks, eine gesunde Lebensweise mit ausreichender Bewegung und gesunder Ernährung sowie der Verzicht auf das Rauchen sind Möglichkeiten, das Risiko zu senken.
Dr. Stephan Kurz ist Facharzt für Anästhesiologie und Notfallmedizin und Leiter des Projekts „Aortentelefon“ am Deutschen Herzzentrum Berlin (DHZB). Dort steht rund um die Uhr unter der Telefonnummer 030-45932007 ein Facharzt für Anästhesie oder Herzchirurgie als Ansprechpartner für die zuweisenden Kolleginnen und Kollegen der Rettungsstellen in Berlin Brandenburg zur Verfügung.
* Kurz, S. D. et al. Insight into the incidence of acute aortic dissection in the German region of Berlin and Brandenburg. International Journal of Cardiology 241, 326–329 (2017)
Foto: © DHZB