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"Wir geben dem Trauma einen Raum"

Mittwoch, 1. Februar 2012 – Autor:
Gewalt gegen Kinder: Dr. Sibylle Winter, Fachärztin für Kinder-und Jugendpsychiatrie, über die neue Trauma-Ambulanz der Charité und warum schnelle Hilfe für die Seele so wichtig ist.
Dr. Sibylle Winter

Dr. Sibylle Winter

Frühintervention heisst: Bei Ihnen bekommt man schnell einen Termin?
 
Winter: In der Trauma-Ambulanz bekommt man ganz schnell einen Termin. Und das ist gerade für Gewaltopfer wichtig. In den ersten Wochen nach einer Gewalttat kann man noch sehr viel tun, um psychische Spätfolgen bei den Opfern abzuwenden.
 
Warum ist der Senat jetzt auf dieses Thema angesprungen?

Winter: In Anlehnung an ein vergleichbares, inzwischen erfolgreiches Projekt in NRW soll Betroffenen auch in Berlin eine schnelle, niedrigschwellige psychotherapeutische Hilfe nach einer Gewalttat im Rahmen des Opferentschädigungsgesetzes angeboten werden, was bisher in dieser Form nicht möglich war.

Opferentschädigungsgesetz impliziert, dass Betroffene auch finanziell entschädigt werden.
 
Winter: Auch das ist möglich. Wenn ein Kind zum Beispiel nach einem Schütteltrauma erblindet, hat es nach dem Gesetz einen Anspruch auf eine Rente. Leider ist das Opferentschädigungsgesetz in der Öffentlichkeit noch viel zu wenig bekannt.

Welcher Art von Gewalt sind Ihre Patienten üblicherweise ausgesetzt?

Winter: Wir sehen hier Kinder und Jugendliche, die überfallen wurden, zum Beispiel in der Schule von anderen Jugendlichen oder unterwegs von "professionellen" Gewalttätern, auch Vergewaltigungsopfer sind dabei. Wir haben hier auch schon Familien gehabt, wo die Täter ins Haus eingedrungen sind. Und dann gibt es Kinder, die Gewalt in der eigenen Familie erfahren haben.
 
Was können Sie diesen Kindern anbieten?
 
Winter: Wir geben dem Trauma einen Raum. Das heisst, wir sprechen mit den Kindern über das Erlebte und versuchen es ihnen zu erklären, auch wenn sie noch klein sind. Ganz wichtig dabei ist, dass wir sie dazu anleiten, das Trauma in eine Geschichte zu packen, beispielsweise ein Märchen darüber zu schreiben oder ein Bild zu malen. Unser Ansatz ist, das Erlebte nicht zu verleugnen, sondern es ins Leben zu integrieren. Das hilft ihnen, wieder die Kontrolle zu gewinnen.
 
Kontrolle über was?
 
Winter: Nach einer Gewalttat werden die Opfer immer wieder von Bildern des Ereignisses eingeholt, tagsüber und nachts, auch in Form von Alpträumen. Und mit den Bildern kommt die Ohnmacht wieder. Durch die Verpackung des Ereignisses in eine Geschichte, bekommen die Kinder die Kontrolle über das Erlebte und verlieren das Gefühl, ohnmächtig einer Situation ausgeliefert zu sein. Aber man muss wissen: Der Mensch braucht Zeit, um so etwas zu verarbeiten, das geht nicht von heute auf morgen.

Welche Rolle spielen die Eltern und Angehörigen bei Ihrer Arbeit?
 
Winter: Eine sehr grosse. Wir integrieren nach Möglichkeit immer die Bezugspersonen in die Therapie. Nach einer Gewalttat ist die ganze Familie traumatisiert, manchmal haben sogar die Eltern grössere Probleme wieder Fuss zu fassen als die Kinder.

Es kommen auch Kinder zu Ihnen, die Gewalt von ihren eigenen Eltern erfahren haben. Beziehen Sie diese Eltern auch mit in die Therapie?
 
Winter: Gerade in diesen Fällen ist die Einbeziehung der Eltern besonders wichtig. Meist geht doch nach schweren Vorfällen die ganz Familie kaputt. Die Kinder werden vom Jugendamt in Pflegefamilien untergebracht, der Vater kommt vielleicht ins Gefängnis. Dabei wäre es wichtig, zusätzlich therapeutisch mit allen Beteiligten zu arbeiten. Eltern bleiben für das Kind immer die Eltern, egal, was passiert ist.

Wie therapiert man einen Vater oder eine Mutter, die ihr Kind misshandelt haben?
 
Winter: Oft sind Eltern einfach überfordert und schlagen ihr Kind aus dem Affekt. Hinterher tut es ihnen dann Leid. Im persönlichen Gespräch geben wir den Eltern die Möglichkeit, das Geschehene zu reflektieren und zu verstehen, warum es passiert ist. Dazu gehört auch die Entschuldigung. Wichtig ist es, die Dinge in Worte zu fassen. Dass diese Eltern bei uns sitzen, ist schon ein grosser Erfolg, denn viel zu oft werden die Dinge viel zu lange unter den Teppich gekehrt.
 
Nun ist die Trauma-Ambulanz als Krisenintervention konzipiert. Lassen sich all die Probleme in wenigen Stunden lösen?
 
Winter: Die Trauma-Ambulanz kann maximal 15 Therapiestunden anbieten. Mittelfristig werden wir das selber leisten können, aber noch befindet sich die Ambulanz im Aufbau. Und was die familiäre Gewalt betrifft, so kooperieren wir schon seit geraumer Zeit mit den Berliner Jugendämtern, um Familien langfristig unterstützen zu können.

Sie meinen damit die Kinderschutzgruppe der Charité?
 
Winter: Ja, die Gruppe will nicht nur die Kinder schützen, sondern auch den Eltern helfen, ihre Elternrolle besser und vor allem ohne Gewalt ausfüllen zu können. Das Konzept funktioniert sehr gut. Aber die Charité bietet den Kindern mit ihrer tagesklinisch als auch vollstationären kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlung noch mehr Hilfe an, wo die Kinder übrigens auch zur Schule gehen können.

Trauma-Ambulanz für Kinder und Jugendliche,

Charité Campus Virchow: (030) 450-566-229
Montag und Dienstag: 12.00 Uhr bis 15.00 Uhr
Mittwoch: 15.00 Uhr bis 17.00 Uhr
Donnerstag und Freitag: 10.00 Uhr bis 12.00 Uhr

Hauptkategorien: Gesundheitspolitik , Medizin

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