Wenn Genesene chronisch krank sind: Was Ärzte über Long-Covid wissen

Nach milder Corona-Infektion nicht wieder auf die Beine gekommen: Long-Covid trifft vor allem Frauen, viele sind noch jung – Foto: © Adobe Stock/Maridav
Extreme Erschöpfung, geminderte Leistungsfähigkeit, Kurzatmigkeit, Herzrasen, Haarausfall, Geschmacksverlust, kognitive Störungen, Hör- und Sehschwäche und vor allem Fatigue: Die Liste der Covid-Folgesymptome füllt Bände. Umso kürzer der Begriff, der sich für das facettenreiche Krankheitsbild durchgesetzt hat: „Long-Covid“. Manchmal ist auch vom Post-Covid-Syndrom die Rede. Gemeint ist eine anhaltende Symptomatik über mehr als zwölf Wochen nach der Erkrankung. Der aktuellen Literatur zufolge sind 10 Prozent aller Covid-Patient betroffen. Für Deutschland bedeutet das eine Inzidenz von rund 350.000 Long-Covid-Patienten.
Was weiß man inzwischen über Long-Covid? Das hat Gesundheitsstadt Berlin am Dienstag Experten bei einem digitalen Workshop gefragt. Aus den Statements lässt sich vor allem ein Fazit ableiten: Viel zu wenig, um Betroffenen eine passgenaue Therapie anzubieten, geschweige denn eine Heilung in Aussicht zu stellen.
Ärzte unterscheiden zwischen späten Genesenen und krank Genesenen
Sicher ist nur, dass prinzipiell jede Corona-Infektion Long-Covid nach sich ziehen kann, wobei Frauen häufiger betroffen sind als Männer. Ärzte unterscheiden grob zwei Patientengruppen: Die einen war sehr schwer an Covid erkrankt, lagen auf der Intensivstation und mussten zum Teil künstlich beatmet werden. Entsprechend lange ist auch ihr Genesungsweg. Sie werden als „Spät Genesene“ bezeichnet. „Wir wissen, dass Patienten mit einem schweren Covid-Verlauf häufig lange noch Probleme haben“, berichtete Dr. Jördis Frommhold, Chefärztin an der Median Klinik Heiligendamm. Das sei nicht verwunderlich, „ist aber deutlich ausgeprägter als nach anderen Infektionskrankheiten.“
Und dann gibt es die Gruppe, die als „Kranke Genesene“ bezeichnet wird. Zu dieser Gruppe gehören oft jüngere Menschen, die einen leichten bis mittelschweren Covid-Verlauf ohne Krankenhausaufenthalt hatten. Bei diesen Betroffenen verschlechtert sich der Gesundheitszustand nach einiger Zeit entweder schleichend oder rapide. Manche von ihnen haben sogar kaum etwas von ihrer eigentlichen Corona-Infektion gemerkt, entwickeln aber nach etwa ein bis drei Monaten eine Long-Covid-Symptomatik, vorwiegend mit ausgeprägten neurologischen und kognitiven Symptomen.
Einigen Patienten geht es nach über einem Jahr noch schlecht
Vor welchem Dilemma Ärzte stehen, machte Prof. Uta Merle vom Universitätsklinikum Heidelberg an einem anonymen Fallbeispiel deutlich. Dem Bericht nach leidet eine 45-jährige Krankenschwester mehr als ein Jahr nach ihrer schweren Covid-Erkrankung immer noch an wiederkehrenden Fieberschüben, Harnwegsinfekten, ausgeprägter Schwäche, Konzentrations- und Denkstörungen, Gliederschmerzen, Atemnot und etlichen weiteren Symptomen. Obwohl sie mit allen Mitteln der modernen Medizin untersucht worden ist: „Wir finden nichts, sämtliche Befunde sind unauffällig“, beschrieb die Internistin die frustrierende Situation. „Die Patientin ist nicht belastbar und bis heute arbeitsunfähig.“
Ist das Immunsystem auf dem Ruder gelaufen?
Die Krankenschwester ist kein Einzelfall. Im Langzeitverlauf besserten sich zwar einige Patienten hinsichtlich ihrer Symptomatik, „einige aber auch nicht“, erklärte Merle. Woran das liegt, sei unklar. Eine Ursache für die Bandbreite an Symptomen wurde trotz intensiver Forschung noch nicht gefunden. Spekuliert wird, dass immunologische oder autoimmune Prozesse eine Rolle spielen. Dafür spricht etwa die Zunahme von Allergien im Rahmen von Long-Covid. Bei Blutuntersuchungen wurden außerdem schon viele verschiedene Auto-Antikörper gefunden, aber nicht der eine alles erklärende Antikörper. Genauso könnte aber auch eine genetische Veranlagung oder eine Viruspersistenz beteiligt sein. Vieles scheint möglich.
In einer Studie wurden per MRT-Ganzkörperuntersuchungen Leber- und Pankreasentzündungen detektiert, die laut Merle nicht mit den Symptomen übereinbringbar waren. Die Studie zeigt einmal mehr, dass praktisch alle Organsysteme betroffen sein können. Und sie wirft eine weitere Frage auf: Nämlich ob gesunde Genesene eine unbemerkte Long-Covid-Organbeteiligung haben könnten. „Das ist momentan noch völlig unklar“, sagte dazu Uta Merle.
Therapien beschränken sich derzeit mehr oder weniger auf eine Linderung der Symptomatik. So können etwa Mangelzustände an Vitaminen ausgeglichen werden oder Schlafstörungen und Allergien behandelt werden. „Aber eine passgenaue Therapie, die haben wir noch nicht.“
Reha erzielt gute Erfolge
Mitunter kann aber durch Rehabilitationsmaßnahmen viel erreicht werden. Wie Dr. Jördis Frommhold berichtete, werden die meisten Patienten nach fünf Wochen Reha mit einer Leistungsfähigkeit von 70 bis 80 Prozent entlassen, bei Einweisung lag dieser Wert bei nur 20 bis 40 Prozent. „Das sind gute Erfolge“, sagte sie. Das Therapieangebot besteht aus neurologischen Trainings, Inhalationstherapien, psychologischer Unterstützung, Ausdauer- und Krafttraining und Atemübungen. „Die Atemtherapie ist der Schlüssel zum Schloss“, erklärte die Medizinerin aus Heiligendamm.
Die kranken Genesenen bereiten ihr die größten Sorgen, weil diese Patienten zur Chronifizierung neigen. Viele müssten in der Reha lernen, dass sich die Grenzen ihrer körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit verschoben haben. Für wie lange, könne niemand sagen. „Das ist schwierig zu akzeptieren, gerade für unsere Patienten, die ja mitten im Leben stehen.“
Demenzähnliche Symptome mit Sauerstoff therapiert
Frommhold schilderte den besonders krassen Fall einer ärztlichen Kollegin, die an kognitiven Defiziten mit Wortfindungsstörungen und dem typischen Brain-Fog litt, die Symptome hätten beinahe an eine Demenz erinnert. Nichts wollte helfen, bis die hyperbare Sauerstofftherapie den Durchbruch brachte. „Das war ein experimenteller Therapieversuch“, stellte Frommhold klar, dem nun in weiteren Studien nachgegangen werden müsse.
Ein kleiner Lichtblick kommt auch aus den USA. Dort hatte eine Selbsthilfegruppe gemeldet, dass es vielen Long-Covid-Patienten nach einer Impfung besser geht. Nach Ansicht der Expertinnen untermauert dieser Befund die These, dass das Immunsystem aus der Bahn geraten ist. Die Impfung könne vermutlich eine Art „Reset“ bewirken.
Long-Covid-Netzwerk will Patienten Odyssee ersparen
Wegen des hohen Krankheitsdrucks baut das Universitätsklinikum Heidelberg gerade ein Long-Covid-Netzwerk auf. Nach Angaben von Prof. Joachim Szescenyi wird die Plattform sämtliche Fachabteilungen und die Long-Covid-Sprechstunde des Uniklinikums mit niedergelassenen Ärzten und Reha-Einrichtungen aus dem Rhein-Neckar-Kreis vernetzen. Patienten bekommen eine App, Ärzte den Zugriff auf eine Monitoring-Plattform, wo sämtliche Patientendaten gesammelt werden und auch Video-Konsultationen möglich sein sollen. „Wir streben eine gesteuerte und begleitete Patienten-Journey an, die nicht zur Odyssee wird“, sagte der Allgemeinmediziner. Viele Betroffene hätten einen langen Leidensweg hinter sich und würden selbst von ärztlichen Kollegen oft nicht ernst genommen. Allgemein sei noch viel Aufklärung nötig, meinte Joachim Szescenyi. Das Rhein-Neckar-Netzwerk will darum auch Online-Fortbildungen für Hausärzte anbieten und Daten aus der Versorgungsforschung bereitstellen.
Gesundheitsstadt Berlin wird das Thema wieder auf dem Demografiekongress am 23. und 24. September und auf dem Nationalen Qualitätskongress Gesundheit am 25. und 26. November aufgreifen – mit den neuesten Erkenntnissen und Forschungsdaten zu Long-Covid.
Video des Workshops