Wegen Corona nicht zum Arzt: Mehr schwere Fälle bei anderen Krankheiten

Rund 20 Millionen Arzttermine weniger registrierte das „Zentralinstitut für die Kassenärztliche Versorgung" im Coronajahr 2020. Der Hauptgrund: die Angst vor einer Ansteckung mit Covid-19. – Foto: AdobeStock/Gina Sanders
Ein Schlaganfall ist ein Notfall. Er trifft Menschen aus heiterem Himmel und jederzeit. Dass die Zahl von Schlaganfällen aber plötzlich schlagartig zurückgeht wie bei einem Kurssturz an der Börse, ist höchst unwahrscheinlich. Im ersten Lockdown der Pandemie im Frühjahr 2020 war das aber zu beobachten – und manche ahnten schon, was das längerfristig bedeuten könnte. Aus Angst vor einer Ansteckung gingen viele nicht zum Arzt oder ins Krankenhaus, obwohl es dringend nötig gewesen wäre – und jetzt werden die Folgen offensichtlich: Im Schatten der Pandemie hat sich bei bestimmten Krankheiten eine Welle von schweren Fällen aufgebaut. Das zeigt eine Umfrage des ARD-Politmagazins „Report Mainz“ unter den jeweils 20 patientenstärksten Lungenkrebs-, Diabetes- und Schmerzkliniken in Deutschland.
2020: Mehr als 20 Millionen Arztbehandlungen ausgefallen
Nach Zahlen des „Zentralinstituts für die Kassenärztliche Versorgung" sind deutschlandweit im vergangenen Jahr mehr als 20 Millionen Arztbehandlungen ausgefallen. Das war vor allem in den Hausarztpraxen zu spüren. Aber auch in den Krankenhäusern kam es laut dem „Wissenschaftlichen Institut der AOK“ (WIdO) zu Ausfällen. In den Monaten seit dem ersten Corona-Lockdown wurde teils bis zu 27 Prozent weniger Fälle behandelt als im Vorjahreszeitraum.
Deutlich mehr Tumore im fortgeschrittenen Stadium
In der „Report Mainz“-Umfrage werden die Folgen besonders am Beispiel der in die Befragung einbezogenen Lungenkliniken deutlich. Im Ergebnis sehen 71 Prozent der Lungenkliniken, die Angaben zu Zahlen machen konnten, eine deutliche Steigerung fortgeschrittener Tumore im Vergleich zur Zeit vor Corona. Gegenüber Report Mainz sprechen die Thorax-Klinik Heidelberg und das evangelische Lungenkrankenhaus in Berlin jeweils von 20 Prozent. Im Marienhaus-Klinikum in Mainz konnten nach Angaben der Klinik vor Corona 41 Prozent der Lungenkrebs-Patienten operiert werden, jetzt sind es laut den Zahlen, die Report Mainz vorliegen, nur noch 25 Prozent. Die Überlebenschance der betroffenen Patienten sei dadurch geringer, so die Einschätzung der Mediziner.
Chefarzt Peter Hollaus vom Marienhaus-Klinikum Mainz sagte gegenüber Report Mainz wörtlich: „Es ist für uns schon schmerzhaft, wenn wir auf den Tumor-Konferenzen sitzen und sehen, dass wir keinem Patienten mit unserer Kunst mehr helfen können, weil es zu weit fortgeschritten ist. Das ist schon hart."
Mehr schwere Fälle als in der Vor-Corona-Zeit
Auch bei Diabetes- und Schmerzkliniken gibt es laut der Umfrage von Report Mainz eine Steigerung schwerer Fälle im Vergleich zur Vor-Corona-Zeit. Bei Diabetes bestätigen das 50 Prozent der Kliniken, die Angaben machen konnten. Beim Thema Schmerz sind es 44 Prozent der Kliniken, die über eine Verschlimmerung bei ihren Patienten berichten. „Auch wenn die Zahlen nicht repräsentativ sein können, geben sie eine Tendenz wieder", heißt es in einer Mitteilung der „Report Mainz"-Redaktion.
Diabetes: Mehr Fußamputationen, weil Patienten zu spät zum Arzt gingen
Auch Thomas Haak, Chefarzt an der Diabetes-Klinik in Bad Mergentheim, ist im Interview mit dem ARD-Politmagazin besorgt: „Wir hatten noch nie so viele Patienten mit extrem schlechten Laborwerten bei der Aufnahme, wie in dieser Zeit. Wir haben eine deutliche Zunahme an Fußwunden, die lange bestanden haben, die man früher hätte besser behandeln können." Jetzt müsse man bei einigen Patienten sogar die Füße amputieren.
Mediziner und Patientenschützer geben Politik Mitschuld
Der Mainzer Chefarzt Hollaus macht die Politik mitverantwortlich für die Krankheitsfälle, die sich im Schatten der Corona-Pandemie angestaut haben. „Die Patienten wurden zuerst in Panik versetzt, dann wurde alles heruntergefahren“, sagt Hollaus. „Es war für mich konzeptlos alles. Man hätte sicher das Vertrauen der Menschen in ihre Krankenhäuser durch Werbekampagnen stärken müssen."
Auch die Vorsitzende des „Aktionsbündnisses Patientensicherheit“, Ruth Hecker, sieht die Politik mitverantwortlich für diese Situation, denn viele Patienten hätten aus Angst vor Corona keine Arzt- oder Klinikbesuche mehr gemacht. Aus ihrer Sicht sind das auch Kollateral-Schäden einer falschen Krisenkommunikation im vergangenen Jahr.
Spahn: „Nur nicht-dringliche OPs sollten verschoben werden“
Das Bundesgesundheitsministerium erklärte dazu gegenüber Report Mainz: Die Bundesregierung habe stets deutlich gemacht, dass lediglich medizinisch nicht-dringliche Operationen verschoben werden sollten. Jens Spahn habe im Mai 2020 an die Bevölkerung appelliert, bei Beschwerden eine Praxis oder ein Krankenhaus aufzusuchen, und im Februar 2021 für die Darmkrebsvorsorge geworben.
Mehr als eine Millionen Eingriffe wegen Covid-19 verschoben
Viele medizinisch nötige, aber nicht akut lebenswichtige Eingriffe wurden seit Beginn der Corona-Pandemie nicht vorgenommen, um (Intensiv-)Betten für einen befürchteten Massenanfall von Covid-19-Patienten freizuhalten. Infolge dieser im März 2020 von Bundeskabinett und Ministerpräsidenten beschlossenen Sperre begann sich eine beachtliche Anzahl an unerledigten Behandlungen anzustauen. Experten der FH Köln sprachen damals von einer „Bugwelle“ von 1,6 Millionen Patienten.