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Weg vom Ärztemangel

Samstag, 1. Mai 2010 – Autor:
Prof. Dr. Anja Lüthy, Professorin für Dienstleistungsmanagement und -marketing an der Fachhochschule Brandenburg, über die Unzufriedenheit deutscher Ärzte mit ihrem Arbeitsplatz, "Kopfgeldprämien" für einen Oberarzt und ein Gütesiegel für attraktive Arbeitgeber.
Prof. Dr. Anja Lüthy

Prof. Dr. Anja Lüthy

Der Ärztemangel in Deutschland bewegt die Gemüter. Wie schlimm ist die Lage wirklich, Frau Professor Lüthy?

Lüthy: In Deutschlands Krankenhäusern fehlen heute etwa 5.000 Ärzte. Freie Assistenzarzt- und Oberarztstellen in Krankenhäusern können - zumindest in ländlichen Regionen - nicht mehr besetzt werden. Diese Situation wird sich aufgrund des demographischen Wandels weiter verschärfen. Bereits in den kommenden 15 Jahren wird es in Deutschland bis zu 30 % weniger Schulabgänger geben. Da wird es immer schwieriger, junge Nachwuchsärzte zu rekrutieren, denn es wird sie schlichtweg nicht mehr geben.

Stimmt es denn, dass viele deutsche Ärzte ins Ausland abwandern, weil sie dort bessere Arbeitsbedingungen vorfinden?

Lüthy: Das ist leider richtig. Ausländische Kliniken werben intensiv deutsche Ärzte an. Über 12.000 deutsche Mediziner arbeiten bereits im europäischen Ausland, die Tendenz ist eher steigend. Der Markt in Deutschland hingegen ist derart leergefegt, dass einige Krankenhäuser inzwischen sogar "Kopfgeldprämien" für einen erfahrenen Oberarzt zahlen. Und Krankenhäuser, die einen Chefarzt suchen, heuern für viel Geld Headhunter an - mit mässigem Erfolg. Denn gute Chefärzte, die zufrieden in ihren Häusern sind, lassen sich nicht abwerben.

Was stört die Ärzte denn hierzulande am meisten?

Lüthy: Es gibt dazu eine Umfrage unter fast 19.000 Medizinern von der Ärztegewerkschaft Marburger Bund. Demnach hält jeder zweite Mediziner die Arbeitsbedingungen in deutschen Krankenhäusern sogar für so schlecht, dass 53 Prozent erwägen, ihre Tätigkeit aufzugeben. Am meisten stören die Mediziner die Arbeitsüberbelastung, die überhandnehmende Bürokratie und die nicht adäquate Bezahlung.

Nun befassen Sie sich ja intensiv damit, was Krankenhäuser tun können, um dem Ärztemangel zu begegnen und offene Arztstellen zu besetzen. Wir sind gespannt...

Lüthy: Krankenhäuser, die sich heute bemühen, ihren Ärzten ein gutes Arbeitsumfeld zu bieten, sprechen sich schnell herum - und werden morgen zu attraktiven Arbeitgebern. Attraktiv sind Arbeitgeber dann, wenn sie sich um ihre Mitarbeiter kümmern, sie gut führen, nicht ausbeuten, sondern an ihrer beruflichen Entwicklung teilnehmen und sie aktiv mitgestalten lassen. Gute Führung gelingt Führungskräften, wenn sie gewisse Managementinstrumente anwenden, die in anderen Branchen Standard sind.

Welche Managementinstrumente sind das?

Lüthy: Das sind eine ganze Menge. Ganz wichtig sind regelmässige Gespräche zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern, auch mit Zielvereinbarungen. Weiter kommen das "Management by walking around" der Vorgesetzten, um vor Ort abzufragen, ob Hilfestellung "von oben" hilfreich wären, gut bei den Mitarbeitern an. Ebenso spielen ein betriebliches Vorschlagswesens mit Prämien und die Weiterbildungsmöglichkeiten eine ganz grosse Rolle bei der Mitarbeiterzufriedenheit. Letztlich rate ich Krankenhäusern, jährlich anonyme schriftliche Mitarbeiterbefragungen zur Zufriedenheit durchzuführen, die auch Möglichkeiten für Wünsche bieten.

Damit wird aber noch längst nicht die lästige Bürokratie abgebaut. Was könnte man denn auf diesem Gebiet tun?

Lüthy: Ärzte sollten natürlich soweit wie möglich von bürokratischen Aufgaben befreit werden, das ist klar. Arzthelferinnen oder Kodierassistenten könnten beispielsweise den Ärzten eine Menge Arbeit abnehmen. Abhilfe würden auch Standards für die Erstellung von Arztbriefen schaffen. In vielen Abteilungen ist das immer noch ein Problem, weil die jungen Ärzte oft nicht wissen, wie sie das KIS bedienen sollen und weil die Schreibbüros in vielen Häusern einfach nicht optimal organisiert sind. Was die Bürokratie betrifft, könnte man eine ganze Menge machen ...

Aber?

Lüthy: Auch hier zählt das Miteinanderreden. Die jungen Ärzte haben oftmals selbst sehr gute Ideen, wie Arbeitsabläufe rationalisiert, standardisiert und beschleunigt werden können. Die Fachabteilungen sollten sich die Zeit nehmen, Lösungen für die oben angesprochenen Probleme gemeinsam mit dem Ärzteteam zu erarbeiten. Das gilt auch für die Arbeitszeit. Die Nachwuchsärzte sind nicht mehr bereit Überstunden zu leisten, ohne dafür extra vergütet zu werden. Hier ist an das Verständnis der "alten" Chefärzte zu appellieren, die am besten gemeinsam mit ihrem jeweiligen Ärzteteam erarbeiten, wie die anfallende ärztliche Arbeit an einem Achtstundentag zu bewältigen ist.

Sie nannten vorhin die Weiterbildung als einen Motivationsanreiz. Was wird auf diesem Gebiet falsch gemacht bzw. wie könnte man's besser machen?

Lüthy: Die fachärztliche Weiterbildung für Assistenzärzte wird in vielen Krankenhäusern noch stark vernachlässigt, obwohl sie für Ärzte einen hohen Stellenwert hat. Junge Assistenten werden Stationen ausgesetzt und mit Aufgaben betraut, denen sie sich teilweise wenig gewachsen fühlen. Hier sind die weiterbildungsermächtigten Chef- und Fachärzte gefragt, den Assistenten eine dem jeweiligen medizinischen Fachgebiet angepasste, umfangreiche und gut strukturierte Weiterbildung zu ermöglichen.

In Ihren Büchern beschreiben Sie Massnahmen, mit denen es zumindest schon vielen Unternehmen ausserhalb der Gesundheitsbranche gelungen ist, attraktive Arbeitgeber zu werden...

Lüthy: Jedes Jahr zeichnet der "Great Place To Work Wettbewerb" Deutschlands attraktivste Arbeitgeber aus. Auch Krankenhäuser können sich an dem Wettbewerb beteiligen. Mit dem Gütesiegel, ein attraktiver Arbeitgeber der Region zu sein, können Krankenhäuser sicherlich erfolgreich auf dem Arbeitsmarkt auftreten, aufgrund ihrer guten Arbeitbedingungen junge Ärzte gezielt an sich binden - und dem Ärztemangel erfolgreich entgegenwirken.

Prof. Dr. Anja Lüthy hält zum Thema "Ärztemangel" einen Vortrag auf dem Deutschen Hauptstadtkongress: Donnerstag, 6. Mai 2010 um 9.00 Uhr im Deutschen Ärzteforum, ICC Berlin

Hauptkategorie: Gesundheitspolitik

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