Jeder Mensch reagiert anders auf eine Covid-19-Infektion. Bei denjenigen mit schweren Verläufen kommt es meist zu einer überschießenden Immunreaktion, die Lungenzellen und auch Gefäße oder andere Organe schädigt. Was die Lawine an Entzündung im Körper antreibt, haben Forscher der Charité und des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin (MDC) gemeinsam mit Kollegen der Universität Linz untersucht. Und sie sind fündig geworden: Die Seneszenz trägt demnach maßgeblich zur Entgleisung des Immunsystems bei.
Seneszenz-Programm entgleist
Die zelluläre Seneszenz ist ein Gewebe-Schutzprogramm bei Stress und drohender Schädigung: Es schützt beispielsweise vor Krebs, indem es die Zellteilung stoppt. Außerdem sondern seneszente Zellen auch entzündungsfördernde Botenstoffe ab, die für Prozesse wie die Wundheilung wichtig sind. Im Übermaß oder dauerhaft produziert, fördern diese Entzündungsvermittler allerdings altersbedingte Krankheiten wie Diabetes oder Gefäßverkalkung.
Das Forschungsteam konnte in der aktuellen Arbeit nun zeigen, dass dieser Prozess maßgeblich zu der lawinenartigen Entzündungskaskade beiträgt, die zu den Lungenschäden bei COVID-19 führt. Die Kaskade beginnt demnach in den mit SARS-CoV-2 infizierten Zellen der oberen Atemwege. Als Stressreaktion auf das Virus lösen die Schleimhautzellen dann das Gewebe-Schutzprogramm aus: Eine Fülle entzündungsfördernder Botenstoffe werden ausgeschüttet, die wiederum Makrophagen anlocken. Diese Immunzellen sollen die seneszenten Zellen beseitigen, werden jedoch selbst in einen seneszenten Zustand versetzt und schütten ihrerseits große Mengen an Entzündungsbotenstoffen aus. Die Immunzellen können in die Lunge gelangen und dort weitere Zellen in die Seneszenz treiben – beispielsweise die besonders empfindlichen Zellen, die die kleinen Blutgefäße der Lunge auskleiden. Das veranlasst die Blutgefäß-Zellen unter anderem, blutverklumpende Stoffe abzugeben. Mikrothrombosen entstehen, das heißt die kleinen Blutgefäße in der Lunge verstopfen. Der Sauerstoffaustausch in der Lunge wird dadurch wesentlich behindert.
Treiber des Entzündungssturms
„Offenbar ist das zelluläre Stressprogramm der Seneszenz ein sehr wichtiger Treiber eines Entzündungssturms, der eine Vielzahl charakteristischer Merkmale der COVID-19-Lungenentzündung, wie Gefäßschädigungen oder Mikrothrombosen, maßgeblich verursacht“, erklärt Dr. Soyoung Lee, Erstautorin der jetzt in Nature erschienenen Studie.
Im Tiermodell prüften die Forscher anschließend, ob der Verlauf der Erkrankung abgemildert werden kann mit Wirkstoffen, die gezielt seneszente Zellen angreifen. Unter den vier Wirkstoffen waren auch zwei neuartige Krebsmedikamente. Alle vier sogenannten Senolytika (Navitoclax, Fisetin, Quercetin und Dasatinib) waren bei Hamstern und Mäusen in unterschiedlichem Maße in der Lage, den Entzündungssturm zu normalisieren und die Lungenschädigung abzuschwächen.
Senolytika sind vielversprechende Behandlungsoption
Ähnliche Ergebnisse fanden die Forscher in zwei kleineren klinischen externen Studien. In der Gesamtschau sieht es offenbar so aus, als ob eines der Medikamente auch beim Menschen die Wahrscheinlichkeit eines schweren COVID-19-Verlaufs senken könnte.
„Diese Ergebnisse sind sehr ermutigend“, sagt Onkologe Prof. Clemens Schmitt von der Charité. „Diese entzündliche Überreaktion frühzeitig mit spezifischen Wirkstoffen zu unterbrechen, hat in unseren Augen großes Potenzial, eine neue Strategie zur Behandlung von COVID-19 zu werden.“
Noch ist es aber viel zu früh Senolytika für die Behandlung von schwer erkrankten Covid-Patienten einzusetzen. Dazu sind weitere klinische Studien nötig, weltweit sind einige schon angelaufen. Die Ergebnisse könnten auch Bedeutung für andere Virusinfektionen haben.
Die Studie “Virus-induced senescence is driver and therapeutic target in COVID-19” wurde soeben im Fachmagazin “Nature” publiziert.