„Vermeidbare Medikationsfehler lassen sich auch vermeiden”

PD Dr. Claudia Langebrake
Frau Dr. Langebrake, in vielen Krankenhäusern werden Tabletten noch per Hand in die kleinen Tagesdispenser einsortiert. Ist das noch zeitgemäß?
Langebrake: Nein, der klassische Medikationsprozess – händisch und ohne digitale Unterstützung - ist sehr fehleranfällig. Sie müssen sich vorstellen, dass der Arzt etwas per Hand auf ein Stück Papier aufschreibt, diese Verordnung wird dann von einer Pflegekraft ebenfalls handschriftlich in die Tageskurve übertragen und der Nachtdienst sortiert schließlich die Tabletten in die Dispenser ein. In dieser Kette lauern natürlich Übertragungsfehler. Hinzukommt, dass man den Tabletten in den Schächtelchen nicht ansieht, wofür sie gut sind und wie sie heißen. Wenn man es böse ausdrückt, könnte man fast von einer verblindeten Medikation sprechen.
Gibt es Zahlen zu den Fehlerraten?
Langebrake: Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass bei jedem vierten Medikationsprofil, also der gesamten Medikation eines Patienten, ein Fehler gemacht wird. Dass zum Beispiel eine Wechselwirkung mit einem anderen Arzneimittel übersehen wurde, dass die Dosis nicht stimmt, die Indikation nicht passt, etwas doppelt verordnet wurde usw. Zum Glück führt nicht jeder Fehler gleich zu einem Schaden, aber jeder noch so kleine Irrtum ist ein potenzielles Risiko für den Patienten.
Sie sagen, dass sich solche menschengemachten Medikationsfehler vermeiden lassen. Am UKE arbeiten Sie mit einem System, das sich Closed Loop Medication Management nennt. Was ist das genau?
Langebrake: Closed Loop ist ein geschlossener digitalisierter Medikationsprozess. Der Arzt verordnet ein Arzneimittel, indem er eine Medikationssoftware benutzt, die seine Verordnung auf bestimmte Fehler wie etwa Dosisüberschreitungen, Interaktionen, Doppelverordungen prüft. Anschließend wird jede Verordnung von uns Krankenhausapothekern noch einmal gegengecheckt. Nach diesem Doppel-Check werden die Arzneimittel von Maschinen in kleine Tütchen verpackt, auf die der Patientenname, die Wirkstoffbezeichnung, die Dosis und Einnahmehinweisen aufgedruckt werden. Über einen QR Code sind außerdem die Beipackzettel abrufbar. Dann geht alles auf Station. Der Kreis schließt sich, wenn die Pflegekräfte die Einnahme abgehakt haben. Wir benutzen alle das gleiche System. Und die Patienten wissen genau, was sie einnehmen. Mehr Transparenz geht praktisch nicht.
Und dabei kann wirklich nichts schiefgehen?
Langebrake: Selbst die Verpackungsmaschinen werden nochmals mit einem Kamera-System überwacht. Sollten sie versehentlich mal zwei statt einer Tablette gegriffen haben oder eine Tablette kaputtgehen, fällt das auf. Außerdem bewahren wir die Daten für eine bestimmte Zeit auf, so dass zu jeder Zeit nachvollziehbar ist, was der Patient bekommen hat. Durch dieses doppelt und dreifach gesicherte System geht unsere Fehlerrate gegen Null.
Konnten Sie damit auch die sogenannten unerwünschten Arzneimittelereignisse reduzieren?
Langebrake: Nebenwirkungen sind leider Teil der Arzneimitteltherapie und werden sich nie ganz vermeiden lassen. Das ist auch nicht das Ziel. Uns geht es darum, alle vermeidbaren Fehler zu vermeiden. Und das gelingt uns ziemlich gut.
Das UKE schneidet bei den genannten Untersuchungen also besser ab, als die Häuser, in denen der Medikationsprozess noch klassische Handarbeit ist?
Langebrake: Interessanterweise sind wir im ersten Schritt, nämlich bei der ärztlichen Verordnung, auch nicht besser als der Durchschnitt. Aber: Die geschilderten Kontrollen und Automatisierungsprozesse fangen die Fehler ab, bevor sie den Patienten erreichen. Das ist der entscheidende Punkt.
Lassen sich Ärzte denn gerne von Apothekern kontrollieren?
Langebrake: Wir Apotheker kontrollieren ja nicht in erster Linie. Unsere Hauptaufgabe ist es, die Ärzte auf den Stationen zu beraten, schließlich haben wir uns im Studium mit nichts anderem als mit Arzneimitteln befasst. Insofern bilden wir ein interdisziplinäres Team, das sich hervorragend ergänzt. Mehr als 90 Prozent unserer Empfehlungen werden akzeptiert; diese Zahl spricht für sich. Letztlich beruht der Erfolg des Closed Loop Medication Managements auf einem Zusammenspiel zwischen Digitalisierung und interdisziplinärer Zusammenarbeit. Es ist ein Gesamtpaket.
Wie viele Kliniken nutzen schon einen solchen elektronisch abgesicherten Medikationsprozess?
Langebrake: Genaue Zahlen kann ich Ihnen nicht nennen, ich weiß nur, dass es mehr und mehr werden. Um ein System, wie wir es haben einzuführen, braucht es allerdings mehr als nur neue Soft- und Hardware. Wir haben es hier mit einem kompletten Wandel zu tun, der das ganze Haus durchzieht und von den Mitarbeitern mitgetragen werden muss. Dieser Wandel muss von einem Change Management begleitet werden, von einer übergeordneten Strategie.
Sind die deutschen Krankenhäuser mal abgesehen von den materiellen Investitionen zu einem solchen digitalen Wandel bereit?
Langebrake: Zunächst einmal: Die Investition rechnet sich, weil Sie wesentlich weniger Arzneimittelvorräte auf den Stationen brauchen und die Mitarbeiter, insbesondere die Pflegekräfte entlastet werden, so dass mehr Zeit für die Patienten bleibt. Und was den zweiten Teil Ihrer Frage betrifft: Die ganze Welt wird digitaler. Meiner Meinung nach werden sich auch die Krankenhäuser über kurz oder lang diesem Trend nicht entziehen können. Digitalisierung ist nun mal die Zukunft, auch in der Medizin.