Ungesunde Lebensmittel: Werbung hat gezielt Kinder im Visier

92 Prozent der Lebensmittelwerbung, die Kinder in Internet und TV wahrnehmen, beziehen sich auf ungesunde Produkte wie Fast Food, Snacks oder Süßigkeiten, ergab eine Studie der Universität Hamburg. – Foto: AdobeStock/exclusive-design
Bei der Vermarktung von dick machenden Produkten setzt die Lebensmittelindustrie offenbar gezielt auf die Beeinflussung von Kindern. Das ergibt sich aus einer Studie der Universität Hamburg. 70 Prozent der untersuchten Lebensmittelwerbespots im Fernsehen richteten sich durch Aufmachung oder Sendeumfeld speziell an Kinder, 89 Prozent dieser TV-Spots warben demzufolge für ungesunde Produkte.
„Werbedruck auf Kinder bewusst erhöht“
„Die Unternehmen haben den Werbedruck auf Kinder bewusst erhöht“, kritisiert Sigrid Peter, stellvertretende Vorsitzende des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVJK). „Die schädlichen gesundheitlichen Folgen davon sehen wir täglich in unseren Praxen. Wir müssen endlich die Ursachen angehen für Übergewicht bei Kindern - und Werbung ist dabei ein wichtiger Faktor.“
Lebensmittelwerbung: 92 Prozent für Ungesundes
In der Studie analysierten Wirtschaftswissenschaftler Werbekontakte von Kindern von drei bis 13 Jahren. Die Bewertung der Produkte als „gesund“ oder „ungesund“ erfolgte nach dem „Nutrition Profile Model“ der Weltgesundheitsorganisation (WHO), das eigens für den Bereich Kinder entwickelt wurde. Die Auswertung bezog sich auf die Kinder, die elektronische Medien tatsächlich nutzen. Kinder aus dieser Gruppe sahen durchschnittlich pro Tag 15,48 Werbespots oder -anzeigen für ungesunde Lebensmittel in Internet oder Fernsehen. 92 Prozent der Lebensmittelwerbung, die Kinder in Internet und TV wahrnehmen, bezogen sich auf ungesunde Produkte wie Fast Food, Snacks oder Süßigkeiten.
Unternehmen locken Kinder gezielt auf ihre Websites
Im Internet werden Kinder der Hamburger Studie zufolge mit Werbe-Postings zu ungesunden Produkten vor allem über Facebook erreicht. Über die größte Social-Media-Plattform der Welt werden die Jüngsten in Deutschland demnach rund zehn Milliarden Mal im Jahr zum Kauf von Süßem, Salzigem oder Fettigem animiert. Zudem lockten die Unternehmen diese für Naschereien und Spielereien empfängliche Altersgruppe gezielt auf ihre Webseiten zu ungesunden Produkten und versuchten sie dort durch Spiele oder ähnliches lange zu halten. Auf dem Videokanal YouTube erfolge die Werbung für Ungesundes mit Kindermarketing zu zwei Dritteln durch Influencer.
Werbung: Stärker als ein gutes Vorbild der Eltern
„Diese Werbeaktivitäten in den digitalen Medien nehmen rasch zu und sind besonders wirksam", warnt Hans Hauner, Leiter des Zentrums für Ernährungsmedizin der TU München und Vorsitzender der Deutschen Diabetes Stiftung (DDS). Besonders besorgniserregend sei, dass Werbung erwiesenermaßen stärker wirken könne als ein gutes Vorbild der Eltern. „Das macht alle Bemühungen um eine Erziehung zur gesunden Ernährung zunichte und darf nicht weiter toleriert werden.“
AOK: „Industrie nicht zu Verantwortung bereit"
„Die Studie zeigt erneut, dass seitens der Lebensmittelindustrie offenkundig keine Übernahme von Verantwortung oder Unterstützung zu erwarten ist", sagt Kai Kolpatzik, Leiter der Abteilung Prävention beim AOK-Bundesverband. Alle bisher erfolgten freiwilligen Selbstverpflichtungen seine ins Leere gelaufen. „Es wird daher höchste Zeit, diese Branche in die Pflicht zu nehmen.“
Ärzte und Kassen fordern gesetzliches Werbeverbot
Ein Bündnis aus Wissenschaftlern, Kinderärzten und dem AOK-Bundesverband nennt die Ergebnisse der Hamburger Studie „erschreckend“ und fordert erneut ein gesetzlich verankertes Werbeverbot für ungesunde Produkte in allen Medienarten, wie es in vielen anderen Ländern inzwischen Standard ist. Dass viele Deutsche – und immer mehr auch die jüngeren – mit Übergewicht zu kämpfen haben, hat in der Corona-Pandemie noch einmal an Brisanz hinzugewonnen. „Ernährungsbedingte Krankheiten haben sich auch bei COVID-19 als verhängnisvolle Risikofaktoren für schwere Verläufe und Versterben gezeigt", sagt Barbara Bitzer, Sprecherin des Wissenschaftsbündnisses „Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten“. „Viele Todesfälle hätten verhindert werden können, wenn die Politik früher Maßnahmen gegen Übergewicht ergriffen hätte.“