Süßmuth: Nicht nur auf Ökonomie achten

Menschliche Zuwendung ist ein wichtiger Bestandteil in der Schmerz- und Palliativmedizin – Foto: ©Dan Race - stock.adobe.com
Das Thema Schmerz- und Palliativversorgung treibe sie seit Jahren um, nicht zuletzt durch ihre Beschäftigung mit AIDS, erklärte Professor Rita Süssmuth in ihrer Eröffnungsrede zum 29. Schmerz- und Palliativtag, der vom 8. bis 10. März 2018 in Frankfurt am Main stattfand. Dort habe sie viele Erfahrungen gemacht, die sie nun weitergeben wolle – in der Hoffnung, dass man es heute besser machen könne, so die Bundestagspräsidentin a.D. und ehemalige Gesundheitsministerin.
Die Fortschritte in der Medizin haben dafür gesorgt, den Menschen immer kleinteiliger zu durchleuchten, so Süßmuth. Auf der Strecke geblieben ist ihrer Ansicht dabei der Mensch in seiner Gesamtheit. Den Patienten, insbesondere auch den Schmerzpatienten, täte es gut, wenn die Behandlung weg von der rein evidenzbasierten Medizin wieder stärker hin zur individualisierten Medizin ginge – und auch die Skepsis anderen Medizinkulturen gegenüber abgelegt würde. Ob Homöopathie, Akupunktur oder TCM – es sei doch eigentlich nicht so wichtig, warum etwas einem Patienten helfe; die Hauptsache sei, es gehe ihm besser. Ruhig mal die vorgegebenen Pfade zu verlassen und neue Wege einzuschlagen, auch wenn es eventuell mal ein Irrweg sei, das rät Süßmuth Medizinern und Patienten.
Mut zu neuen Wegen!
Ein Beispiel dieser „neuen Wege“ führe zurück in die Anfänge der Hospizbewegung Mitte der 80er Jahre, so die ehemalige Bundesgesundheitsministerin. „Einen Ort für Menschen zu schaffen, die nicht zuhause sterben können, das war damals völlig neu. Und dann hat man dort diesen Menschen die Hand gehalten. Das war garantiert nicht evidenzbasiert oder standardisiert, aber es hat geholfen!“ Manchmal müsse man einfach handeln. Aus solchen Erfahrungen könnte die moderne Medizin ihrer Meinung nach noch viel lernen.
Für unerlässlich hält Süßmuth eine flächendeckende Bedarfsplanung in der Schmerztherapie. Wenn die Lösung in der Einführung des Facharztes für Schmerzmedizin liegt, sollte dieser entsprechend eingefordert werden. Ein weiterer Wunsch sei, die Kosten- und Nutzen-Relation nicht nur aus ökonomischer Sicht zu betrachten. „Es kann nicht sein, dass in sogenannte austherapierte Menschen kein Geld mehr investiert wird“. Der Nutzen, wie etwa eine bessere Lebensqualität, sei bei kranken Menschen nun einmal nicht ökonomisch zu messen. Das „Kosten-Stoppschild“ gehöre abgebaut – vor allem in der Politik.
Nicht nur auf Medikamente setzen
Für wichtig hält Süßmuth in diesem Zusammenhang auch folgende Erkenntnis: „Therapie heißt nicht nur Medikamente, wir haben vielleicht zu hohe Erwartungen in die Forschung und die Medizin.“ Doch Schmerzen und Leid lindern könnten ganz viele Maßnahmen, etwa Bewegungstherapie oder Kunst- und Musiktherapie. „Hier wünsche ich mir mehr Offenheit und Austausch: Man kann nur aus- und miteinander lernen.“
Professor Rita Süssmuth war von 1988 bis 1998 Präsidentin des Deutschen Bundestags und von 1985 bis 1988 Bundesministerin für Familie, Frauen, Jugend und Gesundheit. Zuvor war sie Professorin für Erziehungswissenschaften an den Universitäten Bochum und Dortmund und Direktorin des Forschungsinstituts „Frau und Gesellschaft“ in Hannover. Als Expertin für Migration wurde Rita Süssmuth unter anderem zur Vorsitzenden der unabhängigen Kommission „Zuwanderung“ berufen. Sie ist heute Präsidentin des Konsortiums, das den deutschen Beitrag zum Aufbau der Türkisch-Deutschen Universität (TDU) in Istanbul koordiniert. Als Gesundheitsministerin initiierte sie zudem im Jahr 1987 die Gründung der Nationalen AIDS-Stiftung und unterstützte die spätere Fusion mit der Deutschen AIDS-Stiftung „Positiv leben“. Heute ist sie Ehrenvorsitzende des Stiftungskuratoriums.
Foto: © Dan Race - Fotolia.com