Studie beziffert erstmals Corona-Dunkelziffer

Der Kreis Heinsberg gilt mit dem bisher größten Cluster an Infizierten als „Epizentrum“ der Coronawelle in Deutschland. – Foto: ©OrthsMedien - stock.adobe.com
Vor wenigen Wochen machte der Kreis Heinsberg als der Corona-Brennpunkt in ganz Deutschland noch Negativ-Schlagzeilen. Nach einer Karnevalsveranstaltung verbreitete sich das Virus in rasender Geschwindigkeit. Während in anderen Gegenden das Leben fast normal weiterlief, hatte Heinsberg schon den Shutdown.
Inzwischen schauen viele neugierig interessiert auf Heinsberg, denn hier sind das Infektionsgeschehen und die Gegenmaßnahmen, relativ gesehen, denen in der Bundesrepublik insgesamt ein paar Wochen voraus. Der Kreis gilt mit dem bisher größten Cluster an Infizierten als „Epizentrum“ der Coronawelle in Deutschland. Wissenschaftler der Uniklinik Bonn haben diesen Mikrokosmos der Corona-Pandemie unter die Lupe genommen. Zentrale Zwischenergebnisse: Bei sinkender Zahl von Neuinfektionen – und damit auf dem möglichen lokalen Pandemie-Höhepunkt – wurde bei rund 15 Prozent der Probanden eine aktuelle oder bereits überstandene Coronavirus-Infektion nachgewiesen. Diese Zahl ist deshalb besonders interessant, weil darin nicht nur die tatsächlich diagnostizierten Fälle enthalten sind – sondern auch die Dunkelziffer, um die es bisher Rätselraten gab.
Zwischenergebnisse nach zehn Tagen Corona-Forschung
Zehn Tage nach Beginn des Forschungsprojekts am 30. März haben die Wissenschaftler jetzt Zwischenergebnisse vorgelegt. Wichtiges Ergebnis: Bei rund 15 Prozent der Probanden wurde eine aktuelle oder bereits überstandene Coronavirus-Infektion nachgewiesen. Das bedeutet: „15 Prozent der Bevölkerung hat eine Immunität gegen SARS Covid 2 ausgebildet“, sagte Studienleiter Hendrik Streeck auf der Pressekonferenz in der Düsseldorfer Staatskanzlei. „Das bedeutet, dass sich 15 Prozent der Bevölkerung nicht mehr infizieren können – und damit eine gewisse Verlangsamung in der Ausbreitung.“
Erstmals großflächiger Test der Bevölkerung
Die offiziellen Zahlen, etwa des Robert-Koch-Instituts (RKI), bilden nur einen Teil der tatsächlich Infizierten ab. Viele – vor allem jüngere Patienten – überstehen die Infektion mit der Covid-19-Erkrankung mit schwachen oder sogar völlig ohne Symptome. Die Infektion bleibt in diesen Fällen unentdeckt. Wegen knapper Laborkapazitäten werden Tests nach RKI-Vorgaben bisher nur dann durchgeführt, wenn Symptome bestehen und eine Person sich in einem Risikogebiet aufgehalten hat. Die Bonner Wissenschaftler aber haben jetzt erstmals das Infektionsgeschehen in der Gesamtbevölkerung greifbar gemacht, indem sie in der Gemeinde Gangelt im Kreis Heinsberg die Bewohner flächendeckend getestet haben – und damit auch die Dunkelziffer. Dies geschah in Form einer repräsentativen Groß-Stichprobe aus 509 Einzelpersonen, was der Hälfte der Haushalte entspricht.
Weil jetzt auch die bisher unentdeckten Infizierungen in die Berechnungen mit einfließen, relativiert die Bonner Studie zugleich die Dimension der Sterblichkeit infolge einer Coronainfektion. So geht die Johns Hopkins Universität in den USA, die sich durch eine sehr schnelle und aktuelle Erfassung der weltweiten Fälle profiliert hat, davon aus, dass in Deutschland 1,98 Prozent der Infizierten sterben. Weil durch den flächendeckenden Test auch die bislang unentdeckten Infizierungen und die Genesenen hinzukommen und die Gesamtzahl der Corona-Betroffenen damit höher ist, liegt die Todesrate in der Studie für den Ort Gangelt bei nur mehr 0,37 Prozent.
Wer Corona hatte, ist nach durchlebter Krankheit virenfrei
Eine weitere gute Nachricht betrifft diejenigen, die die Covid-19 durchgemacht haben und wieder genesen sind. „Wer die Krankheit überstanden hat, hat eine Immunität“, sagte Gunther Hartmann, Professor für Klinische Chemie und Pharmakologie am Uniklinikum Bonn. Im Gegensatz zu anderen – insbesondere chronischen – Infektionen, sei der Körper nach durchlebter Krankheit virenfrei. „Letzten Endes verlässt das Virus den Körper. Es ist nicht mehr schlafend, schlummern irgendwo im Körper zurückgeblieben.“
Virologe Streeck: „Wir müssen lernen, mit SARS-2 zu leben“
„Die ersten Ergebnisse der Studie zeigen, dass das ein Virus ist, das ernst zu nehmen ist – und dass die bisherigen Maßnahmen richtig waren, um die Ausbreitung einzudämmen“, sagte Hendrik Streeck, Direktor des Instituts für Virologie am Uniklinikum Bonn und Leiter des aktuellen Forschungsprojekts. „Wir müssen lernen, mit SARS-2 zu leben und die Gefahren richtig einzuordnen.“ Nach derzeitigem Wissensstand werde das Coronavirus vor allem durch Tröpfcheninfektionen übertragen, sagte Martin Exner, Leiter des Instituts für Hygiene am Bonner Uniklinikum. Deshalb sei es weiterhin wichtig, dass die Bevölkerung aktiv und diszipliniert mitmache – vor allem durch konsequenten Abstand zu anderen Personen und regelmäßiges Händewaschen und richtiges Husten und Niesen. Statistisch gesehen steckt ein Infizierter zwei bis drei noch Gesunde an.
Nach Aussagen des klinischen Chemikers Hartmann hat das Bewusstsein für das Nichtweiterverbreiten von Keimen eine doppelte Wirkung auf Verbreitung und Todesrate: „Wir gehen davon aus, die Zahl der Erreger bei Erstinfektionen eines Individuums einen Einfluss hat auf den Schweregrad der Erkrankung. Wir hoffen, dass die errechnete Letalität durch einen geringeren Schweregrad beim Einzelnen deutlich reduziert werden kann.“
Test prüft mögliche Übertragung durch kontaminierte Gegenstände
Insgesamt vier Wochen lang erfasst jetzt ein Team aus 80 Ärzten und Wissenschaftlern die bereits bestätigten Fälle und befragt Betroffene und die mit ihnen in häuslicher Gemeinschaft in Quarantäne lebenden Familienmitglieder. Durch virologische Diagnostik, auch des Lebensumfeldes, sowie mittels einer Fragebogenstudie wird bewertet, inwieweit die durchgeführten Tests richtig waren und wie sich das Virus über Luft, über Oberflächen, Bedarfsgegenstände, Lebensmittel und Wasser gegebenenfalls übertragen kann. Zusätzlich werden die Probanden im Hinblick auf Vorerkrankungen und Kausalketten (Reise, Nahrung, Tierkontakt) befragt. Ziel ist es, mögliche Kausalketten mit Vorerkrankungen zu erfassen und hieraus Präventionsempfehlungen für die gesamtdeutsche und europäische Bevölkerung abzuleiten.
Laschet für „Weg in verantwortungsvolle Normalität“
Von dem von ihr in Auftrag gegebenen Forschungsprojekts „Covid-19 Case-Cluster-Study“ verspricht sich die nordrhein-westfälische Landesregierung Erkenntnisse für eine mögliche Lockerung der Kontaktrestriktionen und eine schrittweise Normalisierung des Alltagslebens und Wirtschaftsgeschehens. Die Studie könne „helfen bei einer Öffnungsstrategie, also für das, was wir den Weg in eine verantwortungsvolle Normalität nennen“, sagte NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU).
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