"Schlaganfallvorsorge fängt schon im Kindergarten an"
Herr Dr. Brinkmeier, sind die Menschen in Deutschland nach einem Schlaganfall gut versorgt?
Brinkmeier: In der Notfall- und Akutversorgung liegt Deutschland sicher weltweit an der Spitze. Das liegt nicht zuletzt an den 258 Stroke Units, die wir in den vergangenen Jahren gemeinsam mit der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft zertifiziert haben. Auch die Rehabilitation in Deutschland geschieht auf einem hohen Niveau.
Aber?
Brinkmeier: Natürlich gibt es auch noch Nachholbedarf. In der Nachsorge des Schlaganfalls liegt sicherlich das größte Potenzial.
Woran hapert‘s?
Brinkmeier: Gerade der Schlaganfall macht die Schwachstellen unseres Gesundheitssystems besonders gut deutlich. Fast zwei Drittel der Schlaganfall-Patienten haben lebenslang Beeinträchtigungen. Sie sind langfristig auf Fachärzte, Therapeuten und Hilfsmittelversorger angewiesen. Koordinieren müssen sie das jedoch selbst. Das ist ein echtes Problem.
Sie meinen, die Patienten werden nach der Akutbehandlung zu sehr sich selbst überlassen?
Brinkmeier: Das ist leider so. Nach einer qualitativ hochwertigen Behandlung in den Kliniken mit einer hohen Therapiedichte hängt das langfristige Rehabilitationsergebnis entscheidend davon ab, wie „mündig“, verständig, motiviert und mobil ein Patient ist. Vieles, was in der Akut- und Rehaphase aufgebaut wurde, geht anschließend wieder verloren. Das ist schlecht für den Patienten und teuer für die Gesellschaft.
Wo sehen Sie einen Lösungsansatz?
Brinkmeier: Patienten brauchen eine bessere Begleitung. Dafür gibt es Modelle wie etwa das Schlaganfall-Lotsenprojekt in Nordrhein Westfalen. Generell erfordern solche Modelle jedoch einen langen Atem, weil wir es mit verschiedenen Kostenträgern und Leistungserbringern zu tun haben, die unterschiedliche Interessen verfolgen.
Die Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe fällt in der Öffentlichkeit vor allem durch ihre Aufklärungsarbeit auf. Wie gut sind die Deutschen denn über den Schlaganfall informiert?
Brinkmeier: Als Liz Mohn 1993 die Stiftung Deutsche Schlaganfallhilfe gründete, war der Schlaganfall ein Stiefkind der Medizin - eine Volkskrankheit, über die man nicht sprach. Heute ist das anders. Viele Menschen wissen mittlerweile, dass ein hängender Mundwinkel, undeutliche Sprache oder plötzliche Lähmungserscheinungen Zeichen eines Schlaganfalls sein können. Aus Studien wissen wir aber, dass nur ein Drittel in einem solchen Fall auch den Notruf wählen würde. Das ist natürlich fatal, denn beim Schlaganfall kommt es auf jede Minute an.
Es bleibt also noch eine Menge zu tun?
Brinkmeier: Aufklärung ist nie abgeschlossen. Nicht nur, was das Notfallwissen betrifft. Auch im Bereich der Prävention müssen wir unsere Anstrengungen deutlich erhöhen, sonst steuern wir in einigen Jahren gesellschaftlich und volkswirtschaftlich auf ein großes Problem zu.
Weil es immer mehr ältere Menschen und damit auch mehr Schlaganfälle gibt?
Brinkmeier: Die Zahl der Schlaganfälle nimmt seit Jahren zu, derzeit liegt sie bei rund 270.000 pro Jahr. Es gibt allerdings deutliche Anzeichen dafür, dass dies nicht nur ein demografischer Effekt ist, sondern dass auch Jüngere zunehmend betroffen sind.
Wie das?
Brinkmeier: Die meisten Schlaganfälle werden durch einen ungesunden Lebensstil hervorgerufen: falsche Ernährung, zu wenig Bewegung, zu viel Stress. Hier müssten wir noch deutlich mehr Aufklärung leisten, das fängt schon im Kindergarten an. Und natürlich müssen wir auch die Eltern mit einbeziehen, denn was bringt es, wenn wir den Kindern beibringen, wie man sich gesund ernährt, und zu Hause in der Familie erleben sie dann etwas ganz anderes.
Kann man denn Menschen einen besseren Lebensstil einfach verordnen?
Brinkmeier: Sie können niemanden zu seinem Glück zwingen. Aber sie können den Menschen immer wieder aufzeigen, wie viel Leben und Lebensqualität sie gewinnen können. Ich bin überzeugt davon, dass sich viele davon überzeugen lassen. Es kommt darauf an, wie man es tut. Da haben wir sicherlich noch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft.
Andererseits lassen sich auch nicht alle Schlaganfälle verhindern.
Brinkmeier: Das ist richtig. Es gibt unvermeidbare Risiken wie das Alter oder eine genetische Veranlagung. Dennoch gehen Neurologen heute davon aus, dass etwa zwei Drittel aller Schlaganfälle auf vermeidbare Risiken zurückzuführen sind. Darunter fällt übrigens auch das, was wir Sekundärprävention nennen. Wir wissen zum Beispiel, dass rund jeder fünfte Schlaganfall durch Vorhofflimmern verursacht wird, aber nur etwa 60 Prozent der Patienten eine leitliniengerechte Therapie erhalten. Auch im gesamten Bereich der Sekundärprävention liegt noch ein enormes Potenzial.