PSYCHIATRIE Was die Seele gesund hält
„Es gibt keine Gesundheit ohne seelische Gesundheit.“ Dieser Satz wurde im Jahr 2005 auf der ersten Ministerkonferenz der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur psychischen Gesundheit geprägt. Nach Schätzungen der WHO leiden weltweit etwa 450 Millionen Menschen unter psychischen Erkrankungen, und vor allem in den Industrie- und Schwellenländern breiten sich psychische Leiden immer weiter aus. Die WHO macht hierfür unter anderem die höhere Arbeitsverdichtung und die gestiegenen Anforderungen an die Beschäftigten verantwortlich.
Auch in Deutschland ist eine deutliche Zunahme der diagnostizierten psychischen Erkrankungen zu verzeichnen.
So meldete der Bundesverband der Betriebskrankenkassen (BKK), dass im Jahr 2011 psychische Erkrankungen erstmals an dritter Stelle hinter Rückenleiden und Atemwegserkrankungen standen. Und das wissenschaftliche Institut der Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) ließ verlauten, dass sich die Zahl psychischer Erkrankungen in den vergangenen 15 Jahren verdoppelt habe. Allein auf die Diagnose „Burnout“ gingen im zurückliegenden Jahr 2,7 Millionen Fehltage zurück.
Es ist zwar strittig, ob diese Steigerungen tatsächlich auf eine Zunahme psychischer Erkrankungen hinweisen oder ob diese Erkrankungen nur öfter diagnostiziert werden. Letzteres würde bedeuten, dass der seelischen Gesundheit heute mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird als früher und dass sich die Menschen eher trauen, psychische Probleme anzusprechen. Unstrittig ist bei allen Fachleuten aber, dass der Leistungsdruck in den Unternehmen gestiegen ist und dass die Folgen von psychischen Belastungsstörungen heute deutlicher spürbar sind als früher.
„Die Menschen fühlen sich in ihrem Leben und bei ihrer Arbeit immer häufiger überfordert“, stellt auch Professor Rainer Richter, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK), fest. „Auch die moderne Arbeitswelt der Dienstleistungen und Konkurrenz kennt eine Art Fließbandarbeit. Zeitdruck und zu geringe Kontrolle über die Arbeitsabläufe sind Risikofaktoren für psychische Erkrankungen am Arbeitsplatz.“ Und die Folgen sind erheblich. Nicht nur der volkswirtschaftliche Schaden ist immens – nach jüngsten Berechnungen der Bundesregierung entstehen den Unternehmen durch psychische Krankheiten jährliche Produktionsausfälle von 26 Milliarden Euro –, auch die Folgen für den Einzelnen sind gravierend. So hat eine Studie der WHO ergeben, dass eine Depression die belastendste Krankheit ist, der ein Mensch ausgesetzt sein kann. Und nicht zuletzt in Hinsicht auf somatische Folgekrankheiten sind psychische Erkrankungen von großer Bedeutung. Immer häufiger bringen Studien den Zusammenhang zwischen Stress und psychischen Erkrankungen auf der einen und körperlichen Krankheiten wie beispielsweise Herz- Kreislauf-Problemen auf der anderen Seite ans Licht.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, warum es manchen Menschen – trotz der Zunahme der Belastungen im Alltag und in der Arbeit – gelingt, gesund zu bleiben. Wie man heute weiß, spielen dabei mehrere Faktoren eine Rolle. Dazu gehören die frühkindliche Konditionierung, individuelle Erfahrungen und auch genetische Faktoren. Eine heute recht populäre Theorie des Medizinsoziologen Aaron Antonovsky besagt, dass ein ausgeprägtes „Kohärenzgefühl“ gesund hält. Dieses Gefühl entsteht nach Antonovsky, wenn die Prozesse, denen sich der Mensch gegenübergestellt sieht, für ihn verstehbar, zu bewältigen und sinnvoll sind. Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, stärkt das der Theorie nach den Menschen so, dass er auch mit akuten Stresssituationen umgehen kann.
Zahlreiche Studien belegen mittlerweile eine Korrelation zwischen dem Kohärenzgefühl und der psychischen Gesundheit. Früher glaubte man, das Kohärenzgefühl werde weitgehend in der Kindheit festgelegt. Heute weiß man, dass das Verhalten und die Reaktionen der Menschen auch später noch veränderbar sind. Einigkeit herrscht darin, dass der Mensch Widerstandsressourcen braucht, um den täglichen Anforderungen des Lebens gewachsen zu sein. Denn Stress ist normal und gehört in einem gewissen Maß zum Leben. Die Ressourcen können durch alles „gefüttert“ werden, was dem Menschen gut tut, ihn stärkt und für Entspannung und Ausgleich sorgt. Das kann vom gemütlichen Kaffeeklatsch mit Freundinnen über Sport und Hobbies bis hin zu Entspannungsverfahren wie Progressiver Muskelrelexation oder Meditation reichen.
Eine wichtige Ressource, die den Menschen widerstandsfähiger machen kann, ist die berufliche Integration. Denn auch wenn in Medienberichten häufig über Stress und Überforderung durch Arbeit berichtet wird, ist Arbeit an sich nicht schädlich für die psychische Gesundheit – vielmehr kann sie diese sogar fördern. Arbeit stärkt das Selbstwertgefühl, sorgt für soziale Anerkennung, strukturiert den Tagesablauf und kann das psychische Gleichgewicht stabilisieren. Die Zahlen bestätigen das: Arbeitslose sind nach Angaben der BPtK drei- bis viermal so häufig psychisch krank wie Erwerbstätige. Auch wenn das Kausalitätsverhältnis dabei nicht immer klar ist, kann doch davon ausgegangen werden, dass Arbeit eine positive Wirkung auf die Psyche haben kann.
Natürlich ist es wichtig, dass die Arbeit nicht überfordert. „Entscheidend ist, ob Arbeit als etwas Sinnvolles und Selbstbestimmbares erlebt wird, auf das ich Einfluss habe“, erklärt Professor Rainer Hellweg, Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité in Berlin-Mitte. „Wichtig ist auch, an der Arbeit Freude zu haben und zu lernen, mit arbeitsbedingten Stressoren umzugehen.“ Für Hellweg ist es daher auch sinnvoll, nach einer psychischen Erkrankung keine dauernde Schonhaltung einzunehmen, sondern möglichst schnell wieder in die Arbeit zurückzukehren.
Dass Arbeit allerdings auch oft dazu beiträgt, dass Menschen krank werden, liegt nach Meinung von Experten unter anderem an den modernen Arbeitsstrukturen wie beispielsweise der Verbreitung der neuen Medien. Die ständige Erreichbarkeit durch Smartphone und Laptop führt dazu, dass die Menschen ständig in Bereitschaft sind. Arbeit mit nach Hause zu nehmen oder kurz vor dem Einschlafen noch mal E-Mails zu lesen, ist weit verbreitet und kann dazu führen, dass sich die Menschen nicht mehr erholen können. Die „Entgrenzung von Arbeit und Freizeit“ nennt Dr. Wolfgang Panter, Präsident des Verbandes Deutscher Betriebs- und Werksärzte (VDBW), dieses Phänomen. Wo sich beides nicht mehr auseinanderhalten lasse, gebe es keinen Feierabend mehr. Eine Studie, die vom VDBW in Auftrag gegeben wurde, bestätigt das. 40 Prozent der befragten Arbeitnehmer sagten aus, dass ihre Arbeit Stress erzeuge, und zwar so sehr, dass sie oft nicht mehr ihren privaten Verpflichtungen nachkommen könnten.
Hier sind auch die Arbeitgeber gefragt. Und allmählich werden diese sich ihrer Verantwortung auch bewusst. So steht in einer Richtlinie der Telekom, dass niemand, der außerhalb der Dienstzeit E-Mails versendet, erwarten darf, dass diese ebenfalls außerhalb der Dienstzeit beantwortet werden.
Und beim Autobauer Volkswagen haben im vergangenen Jahr Betriebsrat und Unternehmen zum Schutz der Tarifmitarbeiter eine neue Vereinbarung abgeschlossen, nach der für dienstliche Blackberry-Handys am Feierabend automatisch der E-Mail-Eingang abgeschaltet wird. Das soll verhindern, dass die Mitarbeiter rund um die Uhr zur Verfügung stehen.
Es ist also in vielen Bereichen möglich und notwendig, etwas für die seelische Gesundheit zu tun und Widerstandsressourcen zu stärken. Aber auch wenn schon einiges in Bewegung gekommen ist, wird die Bedeutung von seelischen Erkrankungen immer noch unterschätzt. Zudem ist eine bessere Zusammenarbeit von Arbeitgebern, Politik, Ärzten, Krankenkassen, Vereinen und Netzwerken dringend nötig. Denn die seelische Gesundheit der Menschen zu schützen, entwickelt sich immer mehr zu einer der größten gesundheitspolitischen Herausforderungen unserer Zeit.