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Prävention wird akut

Mittwoch, 2. Juli 2014 – Autor:
Bei der Akutversorgung von Schlaganfallpatienten ist Deutschland international führend. Lücken gibt es in der Vor- und Nachsorge.

Fußballfans staunten nicht schlecht, als kurz vor dem Anpfiff des Bundesligaspiels  Bayern gegen Bremen plötzlich Bayerns  Gesundheitsministerin Melanie Huml in der Münchner Allianz Arena das Wort ergriff. Die CSU-Politikerin hatte den 70 000 Zuschauern Wichtiges zu sagen. Nämlich, dass das Schlaganfallrisiko noch immer unterschätzt wird und ein Hauptrisikofaktor der  Bluthochdruck ist. Man aber selber sehr viel dagegen tun kann, indem man etwa auf  mögliche Vorboten achtet, nicht raucht und ein gesünderes Leben mit reichlich Bewegung  führt. Außerdem war  durch die Stadion- Lautsprecher zu hören, dass beim Schlaganfall nicht viel Zeit bleibt und deshalb umgehend der Notruf 112 gewählt werden muss.

Die ungewöhnliche Durchsage im Münchner Fußballstadion Ende April führt einem eine der ganz großen Fragen des Gesundheitssystems vor Augen: Wie bringt man 80 Millionen Bundesbürgern ihre Schlaganfallrisiken bei? Mehr noch: Wie bringt man sie dazu – bitte alle mal herhören! – ihre schlechten Gewohnheiten doch abzulegen, vor allem die Übergewichtigen und die Raucher?

„Schulung und Aufklärung ist sicher der Bereich, wo noch am meisten zu heben ist“, sagt Professor Matthias Endres, Vorsitzender der Deutschen Schlaganfallgesellschaft. Dabei bezieht er sich auf die Erkenntnis, dass rund 70 Prozent aller Schlaganfälle vermeidbar wären. Und auch beim Notfallwissen sieht der Chefneurologe der Charité gewaltige Defizite, will aber den Schwarzen Peter keinesfalls allein bei der Gesundheitspolitik wissen. „Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die eine Stelle allein nicht lösen kann“, sagt er.

Das sieht auch die Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe so. Seit 20 Jahren setzt sich die private Organisation lautstark dafür ein, Schlaganfällen vorzubeugen und weiß, wie schnell  Botschaften wieder verpuffen. „Obwohl sich das Wissen um die Schlaganfallsymptome wie plötzliche Lähmungserscheinungen oder ein hängender Mundwinkel deutlich verbessert hat, würde nur ein Drittel der Bevölkerung in diesem Fall sofort den Notruf wählen“, erläutert die Stiftungspräsidentin Liz Mohn aktuelle Umfrageergebnisse. „Der Aufklärungsbedarf ist immer noch immens.“

In der Tat ist der Schlaganfall eine ziemliche Herausforderung. Er trifft allein in Deutschland rund 270 000 Menschen im Jahr, ist die dritthäufigste Todesursache im Land und der häufigste Grund für Behinderungen im Erwachsenenalter. 15 Prozent der Betroffenen bleiben dauerhaft schwer pflegebedürftig.

Das macht den Hirninfarkt gefürchtet und teuer: Experten schätzen die
volkswirtschaftlichen Kosten auf mindestens sieben Milliarden Euro pro Jahr. Und es dürfte noch deutlich mehr werden, wenn die jährlichen Fallzahlen, wie Hochrechnungen besagen, bis zum Jahr 2050 auf 400000 steigen.

Trotz alledem gibt es auch gute Nachrichten. Laut der Studie „Global Burden of Disease“ der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist die Schlaganfall-Sterblichkeit in den westlichen Industrienationen seit 1990 um 37 Prozent gesunken. Gleichzeitig treten altersadjustiert immer weniger Schlaganfälle auf. Das heißt: Eigentlich sinkt die Zahl der Schlaganfälleauch in Deutschland, aber weil es immer mehr ältere Menschen gibt, steigt die Fallzahl unterm Strich.

Dass heute weniger Menschen an dieser Krankheit sterben, führt die Deutsche Schlaganfallgesellschaft auf die enormen Verbesserungen in der Akutversorgung zurück. Mit bundesweit mehr als 250 zertifizierten Stroke Units, die mittlerweile über 70 Prozent aller Schlaganfallpatienten versorgen, liegt Deutschland an der Spitze einer internationalen Entwicklung. Eine Untersuchung belegt, dass durch die Spezialeinheiten neun Prozent weniger Patienten an einem Schlaganfall sterben oder eine schwere Behinderung davontragen.

Der Wermutstropfen: „Etwa zwei Drittel der Patienten greifen immer noch zuspät zum Hörer und kommen erst nach drei Stunden oder später in die Klinik“, sagt Professor Darius Nabavi, Leiter der Stroke Unit am Vivantes-Klinikum Neukölln. „Dadurch geht wertvolle Zeit verloren. Für eine Thrombolyse ist es dann meist schon zu spät.“ Da beim klassischen Schlaganfall ein Teil des Gehirns nicht ausreichend mit Blut versorgt wird, weil ein Blutpfropf ein Gefäß verstopft, sterben umso mehr Gehirnzellen ab, je länger die Unterversorgung dauert. Deshalb ist nicht nur die Schwere des Schlaganfalls, sondern auch die Zeit maßgeblich für die Prognose. Wissenschaftler haben ausgerechnet, dass pro Minute zwei Millionen Nervenzellen zugrunde gehen, was im Mittel pro Schlaganfall einer Alterung von 36 Jahren entspricht. Das erklärt auch, warum mehr als die Hälfte der Patienten Defizite behalten und nur ein gutes Drittel unbeschadet davonkommt. „Insbesondere durch die Frührehabilitation können Patienten aber oft noch Fähigkeiten wiedererlangen, die sonst für immer verloren gegangen wären“, sagt Nabavi mit Blick auf einen der wesentlichen Vorteile der Stroke Units.

Fortschritte wurden zudem auch in der Prävention gemacht. Experten zufolge gäbe es in diesem Bereich zwar noch genügend Handlungsbedarf, insbesondere was den viel gepriesenen Lebensstil der Menschen betrifft. Dennoch: „Durch eine bessere Behandlung von Gefäß- und Herzkreislauferkrankungen hat die Medizin in den vergangenen Jahren viele Schlaganfälle verhindern können“, sagt Neurologe Endres. „Wer früher einen Schlaganfall mit 60 bekam, bekommt ihn heute erst mit 80.“

Während hinter den Erfolgen der Schlaganfallprophylaxe meist medikamentöse Therapien stecken, profitieren Patienten mit Gefäßstenosen mitunter von einer Operation. Immerhin tragen chronische Durchblutungsstörungen des Gehirns in bis zu zehn Prozent der Fälle zum ischämischen Schlaganfall bei. Ist die Halsschlagader durch Arteriosklerose verengt, können Gefäßchirurgen die Arterie von der Verkalkung befreien und so die Blutzufuhr ins Gehirn wieder sicherstellen.

Liegt ein kompletter Verschluss der Halsschlagader oder einer anderen wichtigen hirnversorgenden Arterie vor, kann ein Bypass die Rettung sein. An der Berliner Charité wird der Bypass an Hals-und Hirngefäßen europaweit am häufigsten durchgeführt. „Bei Kindern und Erwachsenen, die unter seltenen Gefäßerkrankungen mit zum Teil mehreren Gefäßverschlüssen leiden, können wir mit einem Bypass das Schlaganfallrisiko auf unter sieben Prozent senken“, erläutert Professor Peter Vajkoczy, Direktor der Neurochirurgischen Klinik der Charité, den mittlerweile komplikationslosen Eingriff. Die gleiche prophylaktische Wirkunghabe der Bypass bei arteriosklerotisch bedingten Verschlüssen.

Unterdessen wird etwa ein Drittel der rund eine Million Schlaganfallbetroffenen in einer stationären oder ambulanten Rehabilitationseinrichtung von Logopäden, Physio- und Ergotherapeuten und Psychologen versorgt. Fachleute sehen auch diesen Teil der Versorgungskette gut aufgestellt. „Deutschland hat sicher die beste Akutversorgung der Welt und auch bei der anschließenden Rehabilitation sind wir vorbildlich“, sagt der Sprecher der Deutschen Gesellschaft für Neurologie Professor Hans Diener.

Aufklärung über die Risiken und langfristige Betreeung sind wichtige Handlungsfelder

Erhebliche Defizite sieht der Neurologe indes in der Nachsorge. Hier fehlen seiner Ansicht nach integrierte Versorgungsstrukturen, die langfristig die Betreuung der Patienten und vor allem deren Therapietreue sicherstellen. Nach einem WHO-Bericht lässt bei 50 Prozent aller chronisch Kranken – zu denen auch Schlaganfallpatienten zählen – schon nach kurzer Zeit die Therapietreue nach. Das bedeutet: Ärzte werden nicht mehr aufgesucht, Tabletten nicht mehr genommen, Hilfsmittel nicht mehr genutzt und gute Vorsätze wie Abnehmen und Nichtrauchen vergessen. Experte Diener kennt die fehlende Selbstdisziplin aus der klinischen Praxis und bezeichnet sie als fatal. „Patienten, die bereits einen Schlaganfall erlitten haben, gehören zu einer Hochrisikogruppe. Jeder dritte Patient erleidet einen weiteren Schlaganfall.“

Weil Sekundärprävention aus Expertensicht eines der ganz wichtigen Handlungsfelder ist, schickt die Schlaganfall-Hilfe seit Anfang des Jahres Lotsenzu Patienten nach Hause. In dem Modellprojekt werden bis Juli 2015 insgesamt 300 Schlaganfallpatienten aus Nordrhein-Westfalen von fünf Lotsen betreut, parallel wird das Vorhaben wissenschaftlich ausgewertet. „Ziel des Projekts ist, die  Wirksamkeit dieser Betreuungsform nachzuweisen, um sie als Teil der Regelversorgung zu etablieren“, sagt der Sprecher der Schlaganfall-Hilfe Mario Leisle.

Ob das Modell eine Chance hat oder nicht. Genau wie die Fachgesellschaften sieht auch die Schlaganfall-Hilfe derzeit in der Aufklärung und Nachsorge den größte Handlungsbedarf.Ein Insider formulierte kürzlich: Im Klinik-und  Rehabereich ist Deutschland Spitze, aber im System drum herum – da geht noch was.

Foto: © maho - Fotolia.com

Hauptkategorien: Gesundheitspolitik , Medizin
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