Personalkrise im Gesundheitssystem: „Der Markt ist leergefegt”

Weniger Krankenhäuser, mehr Digitalisierung: Ob und wie die Personalkrise im Gesundheitswesen noch abgewendet werden kann, wurde auf dem 13. Nationalen Qualitätskongress in Berlin mit hochrangigen Experten erörtert – Foto: ©xy - stock.adobe.com
Die Not ist groß: Für eine neue Pflegekraft zahlen Krankenhäuser mittlerweile Ablösesummen von rund 10.000 Euro. Selbst attraktive Häuser können derzeit Dutzende bis Hunderte Pflegestellen nicht besetzen. „Der Markt ist leergefegt“, sagte Dr. Anke Diehl, Digital Change Managerin am Universitätsklinikum Essen am Donnerstag auf dem 13. Nationalen Qualitätskongress in Berlin.
Gleichzeitig sind allein in diesem Jahr 70 Krankenhäuser in die Insolvenz gegangen. Das eine hat durchaus etwas mit dem anderen zu tun. Schaut man nämlich in Vorzeigeländer wie Dänemark zeigt sich, dass Deutschland pro Einwohner genauso viele Ärzte und Pfleger hat wie das kleine skandinavische Land. Doch da es in Deutschland verhältnismäßig sehr viel mehr Krankenhäuser gibt, ist der Personalschlüssel hierzulande deutlich geringer. Das führt dann zu spürbaren Lücken wie unterbesetzten Stationen, langen Wartezeiten, Aufnahmestopps von neuen Patienten oder gar der Schließungen von ganzen Abteilungen. Oder eben auch zu fragwürdigen Ablösegeldern.
Jedes fünfte Krankenhaus könnte in zehn Jahren verschwunden sein
Dass es zu einer Strukturveränderung im stationären Sektor kommen muss, das räumt inzwischen auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) ein. „Wir haben akzeptiert, dass es unvernünftige Doppelstrukturen gibt und es einen Abbau von Standorten geben muss“, erklärte DKG-Präsident Dr. Gerald Gaß im Rahmen der Eröffnungsveranstaltung des Qualitätskongresses. Gaß hält in den kommenden zehn Jahren 20 Prozent weniger Krankenhäuser für realistisch. Das würde eine Schließung von rund 380 der 1.900 Krankenhäuser bedeuten. Analysen, wonach 50 Prozent der Krankenhäuser oder mehr geschlossen werden könnten - ohne die Versorgung zu gefährden, hält der Krankenhausexperte für absurd. Denn es fehlten sekundäre Versorgungsstrukturen. „Solche Veränderungsprozesse müssen sektorenübergreifend gedacht werden“, sagte er. „Diese Diskussion vermisse ich.“
Gaß kritisierte außerdem die eingeführten Personaluntergrenzen und meinte, der Gesetzgeber werde sich hier korrigieren müssen. Nicht überall werde gleich viel Personal benötigt. „Das Personal wird künftig anders zu verteilen sein. Die Personaluntergrenzen werden das nicht lösen“, erklärte er. Die DKG hatte im Sommer ein alternatives Konzept vorgeschlagen. Danach soll zusammen mit dem mit Deutschem Pflegerat, Pflegekammern und Gewerkschaften ein Personalbemessungsinstrument entwickelt werden, das eine angemessene Pflegepersonalausstattung pro Krankenhaus definiert.
Wenn Personaluntergrenzen Patienten gefährden
Zu welchen absurden Szenarien die gesetzlich festgelegten Personalschlüssel mitunter führen können, erzählte GBA-Präsident Josef Hecken am Beispiel der Frühchenstation des Universitätsklinikums Hamburg Eppendorf. Durch eine „überraschende Drillingsgeburt“ musste die Station auf einen Schlag drei Frühchen versorgen. Aber es war Wochenende und es fehlte das dafür erforderliche Personal. Daraufhin wurde eines der Drilling in ein anderes Hamburger Krankenhaus verlegt und ein anderes nach Oldenburg geflogen. „Dabei ist der Transport das gefährlichste, was es für ein Frühchen gibt“, betonte Hecken. Inzwischen hat der G-BA die Vorgaben gelockert, so dass Neonatologien in Fällen wie diesen von den Mindestanforderungen vorübergehend abweichen können.
Dabei wären die Mindestanforderungen viel einfacher zu erfüllen, wenn nicht im Umkreis von wenigen Kilometern zwei oder mehr Kliniken mit demselben Angebot miteinander konkurrieren würden, wenn Kapazitäten zusammengelegt und gebündelt würden. Hecken warf Landespolitikern in diesem Punkt eine Doppelmoral vor. „Die Diskussion um die Krankenhauspolitik ist eine der verlogensten Diskussionen überhaupt“, sagte er. „Auf der einen Seite fordern Politiker mehr Qualität in den Krankenhäusern, auf der anderen Seite verhindern sie, dass kleine Krankenhäuser schließen.“
Der Abbau von Doppelstrukturen sei notwendig, so die einhellige Meinung der Experten auf dem Nationalen Qualitätskongress. Einmal um dem Personalnotstand zu begegnen, aber auch um Qualität der Behandlung zu erhöhen – Stichwort Mindestmengen.
Digitalisierung setzt personelle Ressourcen frei
Doch in Anbetracht der demografischen Entwicklung, die bis 2030 drei Millionen mehr alte Menschen mit sich bringen wird, wird man an weiteren Stellschrauben drehen müssen. Eine solche Stellschraube könnte die Digitalisierung sein. Die verspricht nicht nur Entlastung bei Dokumentations- und organisatorischen Aufgaben, sondern auch bei ärztlichen, pflegerischen und pharmazeutischen Tätigkeiten. So fertigt am Universitätsklinikum Essen heute schon ein Roboter die Chemotherapien an und eine App untersucht Veränderungen der Haut.
„Digitale Lösungen können enorme Ressourcen im Gesundheitswesen freisetzen“, meinte Dr. Anke Diehl. Sie seien jedoch teuer und würden nicht gegenfinanziert. 8.000 Ipads anzuschaffen, sei einfach nicht drin. „Dabei wäre dies auch eine Wertschätzung für die Mitarbeiter.“ Es fehle jedoch nicht nur an Geld, sondern auch am politischen Willen, stellte die Digital Change Managerin fest. „Wir reden seit 2003 über eine Telematikinfrastruktur. Bis heute fehlt dafür der große politische Rahmen.“
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