Otmar Wiestler: „Das Feld ist in Bewegung”
Auf keinem Gebiet der Medizin wurden in den letzten Jahren so viele Fortschritte gemacht wie in der Krebsmedizin. Diese selbstbewusste Ansage stammt von einem, der es wissen müsste: Professor Otmar D. Wiestler, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) in Heidelberg. Auf der Eröffnungsveranstaltung des Hauptstadtkongresses Medizin und Gesundheit am Mittwoch konnte der renommierte Krebsforscher dann seine These mit beeindruckenden Beispielen belegen.
Leukämie mit Hautkrebsmittel zum Stillstand gebracht
Eines davon ist die Krankengeschichte eines Patienten mit einer so genannten HCL-Leukämie, dessen Blutwerte sich trotz Therapie kontinuierlich verschlechterten. Am Heidelberger Tumorzentrum habe man dann die Leukämiezellen des Patienten sequenziert und eine Mutation im B-RAF Gen gefunden, berichtete Wiestler. Zwei Monate Therapie mit einer neuen Substanz, die gegen diese Genveränderung gerichtet ist, habe zum Stillstand der Erkrankung geführt. „Die Remission hält nun schon seit zwei Jahren an“, erklärte Wiestler und brachte als Beweis sogar die (anonymisierten) Blutwerte des Patienten mit. Derzeit werde in einer klinischen Studie untersucht, ob das Krebsmittel Verumafenib, das bislang zur Behandlung des Melanoms zugelassen ist, auch eine neue Behandlung für diese spezielle Form der Leukämie sein könnte.
Erfolge wie diese könnten sich in den kommenden Jahren häufen. Wiestler zufolge basiert der Fortschritt der Krebsmedizin insbesondere auf zwei Säulen: Die eine ist das wachsende Verständnis der Krankheitsmechanismen, das auf der molekularen Diagnostik basiert. Und die andere Säule ist ein Arsenal an neuen Substanzen, mit denen man gezielt in diese Mechanismen eingreifen kann. Etwa ein Dutzend dieser neuen zielgerichteten Substanzen (Antikörper und Inhibitoren) sind mittlerweile in der Krebstherapie etabliert und weitere Hunderte in der Pipeline. „Krebs ist eine ausgesprochen individuelle Krankheit“, sagte Wiestler, „und wir haben eine Menge über die Funktion der Moleküle gelernt.“ Künftig werde man durch intelligente Kombinationen verschiedener Substanzen den Krebs gleich an mehreren Stellen angreifen können, stellte der Krebsforscher in Aussicht und zeigte sich überzeugt, in etwa zehn bis 20 Jahren selbst fortgeschrittene Tumoren über lange Zeit unter Kontrolle halten zu können. „Krebs wird dann zu einer chronischen Erkrankung, mit der man lange Zeit gut leben kann“, so der Krebsexperte.
Gensequenzierung in Heidelberg bald für alle Krebspatienten
Und noch etwas versprach er: Allen am Heidelberger Krebszentrum (NCT) behandelten Patienten wolle man in Zukunft eine Untersuchung ihrer Gene, also eine komplette Sequenzierung, anbieten, um sie maßgeschneidert behandeln zu können. Das Vorhaben werde mit 15 Millionen Euro von der Dietmar Hopp Stiftung unterstützt.
Viel versprechende neue Ansätze in der Krebsmedizin sieht Wiestler darüber hinaus in der Immuntherapie, die seiner Ansicht nach der „theoretisch beste Behandlungsansatz ist.“ Die Immuntherapie macht sich die körpereigenen Abwehrkräfte zu Nutze, um schädliche Eindringlinge wie etwa Krebszellen zu bekämpfen. Mehr als zehn Jahre lang sei man nicht sehr erfolgreich auf dem Gebiet der Immuntherapie gewesen, stellte Wiestler fest, doch inzwischen zeichne sich Licht am Ende des Tunnels ab. Derzeit seien mehrere Impfungen gegen Krebs in Entwicklung etwa gegen das Prostatakarzinom oder gegen Gliome, die häufigste Form von Hirntumoren. Mit sogenannten Immun-Checkpoint-Inhibitoren habe man bereits verblüffende Erfolge bei vielen weiteren Krebserkrankungen erzielt.
Nachdem Wiestler ungefähr ein Dutzend Forschungsprojekte vorgestellt hatte – darunter das Projekt INFORM, bei dem man deutschlandweit allen krebskranken Kinder mit Rückfall das Erbgut analysiert, sagte er: „Das Feld ist in Bewegung.“ Wohl niemand im Saal hatte nach seinem dicht gepackten Vortrag noch den geringsten Zweifel daran, ebenso wenig wie an seinem Versprechen, dass die Krebsmedizin in Zukunft zunehmend individualisierter wird.
Foto: DKFZ