Neue Erkenntnisse über seltene Bewegungsstörung
Eine Mutation im SYNE1-Gen kann die sogenannte SYNE1-Ataxie auslösen, eine seltene Bewegungsstörung, die bisher als nicht sonderlich schwerwiegend galt sowie auf eine bestimmte Region, nämlich den Osten Kanadas, beschränkt zu sein schien. Doch dies hat sich nun als Fehleinschätzung erwiesen, wie Forscher um Dr. Matthis Synofzik vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH) des Universitätsklinikums Tübingen und vom Deutschen Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Tübingen zeigen konnten. Demnach ist die Krankheit kein kanadisches Phänomen, sondern kommt weltweit vor. Und sie ist nicht nur häufiger als bislang angenommen, sondern kann auch mit vielen verschiedenen Symptomen verbunden sein, wie beispielsweise einer verkrümmten Wirbelsäule, Lähmungen oder sogar geistiger Behinderung.
Forscher gehen seltener Bewegungsstörung auf den Grund
Vor fast zehn Jahren wurde in Quebec die seltene Ataxie entdeckt, bei der ein riesengroßes Eiweiß seinen Dienst versagt. Dieses Protein sitzt in der Hülle des Zellkerns und verankert dort einen Teil des Zellskeletts. Seine exakte Funktion ist allerdings noch unklar. Das zu dem Protein gehörige Gen heißt SYNE1. Wegen seiner enormen Größe bietet das Gen reichlich Platz für genetische Veränderungen, allerdings rufen nur solche Mutationen die Ataxie hervor, die das Protein derart verkleinern, dass keine brauchbare Version mehr entsteht.
Die Folgen: Schwanken, verwaschenes Sprechen und Doppelsehen. Zumindest galten diese Symptome bisher als typisch für die SYNE1-Ataxie. Die Gehstörungen schienen dabei nicht allzu schlimm zu sein. So kamen die meisten kanadischen Patienten ohne Rollator aus, brauchten allerdings häufig einen Gehstock. Die Krankheit galt auch als Leiden, das nicht schnell voranschreitet und die Lebenserwartung nicht verkürzt. Die Tübinger Forscher wollten nun wissen, ob das die ganze Wahrheit ist.
Da Ataxien sehr selten sind - von hunderttausend Personen erkranken nicht mehr als zwanzig – arbeitete das Team mit sieben europäischen Zentren zusammen. Zunächst wurden 434 Patienten aus 36 Ländern, später weitere 116 untersucht. Alle Probanden litten unter einer unklaren, rezessiv vererbten Bewegungsstörung. Rund fünf bis sechs Prozent der Patienten hatten Mutationen im SYNE1-Gen. Aber nur einer von fünf Patienten mit einer solchen Mutation wies die milden, aus Kanada bekannten Symptome auf. Vier von fünf Patienten hatten mehr und vor allem schwerere Krankheitszeichen. „Das Spektrum reicht von Veränderungen an der Wirbelsäule, über Missbildungen an den Füßen, Muskelschwund, Lähmungen bis hin zu Störungen bei der Atmung und geistiger Behinderung“, erklärt Synofzik.
Folgen der SYNE1-Ataxie schwerer als bisher angenommen
„Wir haben es bei der SYNE1-Ataxie also nicht mit einer milden Bewegungsstörung zu tun, die vom Kleinhirn ausgeht, sondern mit einer komplexen Erkrankung, bei der auch das Skelett und die motorischen Nervenzellen im Rückenmark betroffen sind“, so der Forscher. Gerade die Beteiligung der motorischen Nervenzellen scheint ein häufiges Symptom bei der SYNE1-Ataxie zu sein. Dadurch hat die Erkrankung eine gewisse Ähnlichkeit mit der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS), bei der die Muskulatur versagt.
Die Forscher räumen auch mit der Einschätzung auf, dass die Lebenserwartung der Kranken nicht reduziert sei. Drei der insgesamt 30 in beiden Studien identifizierten Patienten hatten Schwierigkeiten mit der Atmung. Einer dieser Patienten starb mit 36 Jahren an den Komplikationen. „Die Krankheit wird neu bewertet werden müssen“, sagt Synofzik. „Wir stehen erst am Anfang, wissen aber jetzt, dass die ursprünglich beschriebene Symptomatik nur auf einen Teil der Patienten zutrifft. Die SYNE1-Ataxie ist häufiger, komplexer und schwerwiegender als bisher angenommen.“
Synofzik und seine Kollegen haben bei der Sequenzierung der defekten Genkopien insgesamt 46 neue Mutationen gefunden. Die Wissenschaftler plädieren deshalb dafür, bei einem Verdacht auf diese Erkrankung immer das gesamte riesengroße Gen durchzumustern, auch wenn das mühsam ist. Da sie auch zeigen konnten, dass die Betroffenen kein SYNE1-Protein mehr in ihren Muskeln haben, arbeiten die Forscher nun daran, daraus einen diagnostischen Test für die klinische Routine zu entwickeln.
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