„Mütter von autistischen Kindern haben besondere Belastungen”

Dr. Christine Preißmann, Ärztin und selbst Asperger-Autistin
Sind die Mütter von Asperger-Autisten anderen Belastungen ausgesetzt als die Mütter von Kindern mit anderen Behinderungen?
Preißmann: Der Autismus kann viele Formen haben, von der geistigen Behinderung bis zur Hochbegabung. Besonders bei Asperger-Autisten ist die Behinderung nicht auf den ersten Blick sichtbar. Die Kinder wirken einfach ungezogen. Das stößt schlicht auf Unverständnis. Den Müttern wird von der Außenwelt der Vorwurf gemacht, sie hätten ihr Kinder nicht im Griff oder sie schlecht erzogen. Dies ist bei sichtbaren Behinderungen anders.
Was macht das Leben mit einem autistischen Kind aus?
Preißmann: Es bedeutet zunächst viele Einschränkungen und eine hohe zeitliche und finanzielle Belastung. Sie müssen das Kind in die Therapie fahren, es gezielt fördern, viele Mütter können nicht mehr arbeiten gehen. Die Partnerschaft wird auf eine harte Probe gestellt, fast alle haben massive Schwierigkeiten und nicht selten steht eine Trennung im Raum.
Das private Leben der Mütter verändert sich stark?
Preißmann: Die meisten Frauen, mit denen ich gesprochen habe, sind sehr isoliert. Über die Förderung ihrer Kinder vergessen sie sich selbst. Das ist verständlich, denn die Sorge um die Zukunft ihres Kindes ist ein zentrales Problem. Für viele wird der Autismus zum Lebensthema.
Können gute Freunde da helfen?
Preißmann: Bei den meisten Frauen hat sich im Laufe der Jahre der alte Freundeskreis verloren, sie haben vorwiegend Kontakt zu anderen betroffenen Familien. Das ist aber auch wichtig zur Entlastung, dass man sich mit Gleichgesinnten austauschen kann, privat oder im Rahmen einer Selbsthilfegruppe.
Viele Mütter in ihrem Buch kämpfen mit der Enttäuschung, dass ihr Familienleben niemals so leicht und harmonisch sein wird wie bei anderen Familien.
Preißmann: Andere Familien haben es auch nicht immer leicht. Aber es stimmt, es ist ganz wichtig, sich von seinen Träumen und Vorstellungen zu verabschieden und neue und realistischere Ziele für das Zusammenleben zu entwickeln. Das ist schwer. Sie müssen sich von vielem verabschieden. Das schafft man nicht allein. Mütter sollten sich auf jeden Fall professionelle Unterstützung suchen, um mit den speziellen Belastungen fertig zu werden.
Sie meinen eine Psychotherapie? Bezahlt das die Kasse?
Preißmann: Das ist eine Möglichkeit. Um solch eine Therapie verordnet zu bekommen, müssen Belastungsreaktionen vorhanden sein, aber die findet man bei den Eltern fast immer. Viele entwickeln auch Schuldgefühle und meinen, sie hätten versagt. Eine wichtige Botschaft lautet: Die Mutter ist keine Therapeutin, sondern in erster Linie vor allem Mutter, mit allen Stärken und Schwächen.
Ihre Familie und Sie wussten lange nichts von Ihrer Behinderung. Was hätte Ihren Eltern damals geholfen?
Preißmann: Das Verhalten von Asperger-Autisten wird von der Außenwelt oft als nervig und störend empfunden. Hätten sie etwas über darüber gewusst, hätten meine Eltern viele meiner Verhaltensweisen nicht als Provokation oder Schikane gedeutet. Ich habe zum Beispiel alles wörtlich genommen und auf einem total geregelten Tagesablauf beharrt, selbst im Urlaub. Deswegen ist es ganz wichtig für Mütter, alles über den Autismus zu erfahren (Psychoedukation).
Sie schreiben, dass schon ein Frisörbesuch für ein autistisches Kind eine Katastrophe sein kann. Warum?
Preißmann: Es liegt daran, dass Autisten überhaupt keine Veränderungen mögen, auch nicht an den Haaren. Sie haben besonders mit leichten Berührungen große Schwierigkeiten, und im Bereich des Kopfes sind sie sehr empfindlich. Das Shampoo riecht anders als gewohnt, und dann noch die vielen fremden Menschen drumherum.
Sie bekamen Ihre Diagnose mit Ende 20, auch in anderen Familien, die in ihrem Buch zu Wort kommen, wurde die Asperger-Diagnose oft erst spät gestellt. Woran liegt das?
Preißmann: Menschen mit Asperger sind oft nicht exakt zuzuorden. In meiner Kindheit gab es noch keine Kenntnisse darüber. Inzwischen gibt es zwar Diagnose-Kriterien und standardisierte Tests, aber vielen Ärzten fehlt die Erfahrung damit. Geschätzt sind 400.000 Menschen in Deutschland davon betroffen.
Ein großes Problem für viele Familien ist der Schulbesuch.
Preißmann: Am wichtigsten ist Offenheit. Die Lehrer sollten von dem Autismus wissen, damit sie damit umgehen können. Wenn der Lehrer zum Beispiel bittet, den roten Hefter herauszuholen, die dritte Seite aufzuschlagen und den oberen Text durchzulesen, ist bei autistischen Kindern schon nach „Hefter herausholen“ Schluss, den Rest können sie in dem Moment nicht verarbeiten. Wichtig ist auch, die Mitschüler zu informieren. Asperger-Autisten wirken auf andere Kinder merkwürdig und werden nicht selten gemobbt. Mit den anderen Schülern darüber zu sprechen, kann dem vorbeugen.
Kann ein Asperger-Autist jede Schule besuchen?
Preißmann: Theoretisch ja, praktisch brauchen viele Schulen noch mehr Kenntnisse über die speziellen Bedürfnisse. Autistische Kinder brauchen in hohem Maß Struktur und Routine. Einige müssen aber auch eine Förderschule besuchen.
Was kann dem Kind helfen, den Schulalltag zu meistern?
Preißmann: Man kann beim Jugendamt einen Schulbegleiter oder Integrationshelfer beantragen. Sie begleiten das Kind stundenweise oder auch den ganzen Schultag über. Es ist von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich, wie leicht oder schwer einer zu bekommen ist. Auch die Qualifikation ist unterschiedlich. In einem Bundesland wollten sie nur Studenten dafür einsetzen, die dann auch noch ständig gewechselt hätten. Ihnen fehlt aber die Lebens- und Berufserfahrung, um mit dem schwierigen Verhalten der Kinder umgehen zu können. Einen Integrationshelfer können Autisten übrigens auch noch während des Studiums beantragen.
Wohin können Eltern sich noch wenden?
Preißmann: Es gibt mittlerweile flächendeckend Autismusverbände und Therapiezentren, die nach dem multimodalen Modell arbeiten, die versuchen alle Akteure, die mit Kind zu tun haben, Therapeuten, Lehrer, Erzieher, regelmäßig zu Gesprächen zusammenzuholen, damit diese sich über die Maßnahmen und Strategien absprechen können.
Es gibt bei autistischen Kindern immer wieder besondere Krisensituationen?
Preißmann: Jeder Übergang kann zu einer krisenhaften Situation führen, der Wechsel von der Kita in die Schule, von der Schule in die Berufsausbildung. Das Kind kann dann bis zu einem halben Jahr sehr schwierig sein. Auch wenn die Kinder in die Pubertät kommen, sie werden dann oft aggressiver und verhaltensauffälliger, dazu kommt der Wunsch nach Sexualität. Es wäre wichtig, dass Familien mit autistischen Kindern eine längerfristige, kontinuierliche Begleitung bekommen, um sie dabei zu unterstützen.
Dr. Christine Preißmann ist Fachärztin für Allgemeinmedizin, Notfallmedizin und Psychotherapie. Sie ist als Ärztin an der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Heppenheim tätig.
Literatur: Dr. Christine Preissmann: Gut leben mit einem autistischen Kind. Das Resilienz-Buch für Mütter, Klett-Cotta, Stuttgart 2015
Foto: Dr. Christine Preißmann