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„Mit echten Anreizen wäre das Pflegeproblem schnell gelöst“

Freitag, 17. März 2023 – Autor:
Einen ambulanten Pflegedienst in Berlin zu finden, ist schwierig geworden. Personalmangel ist das Hauptproblem. Dabei gäbe es relativ einfache Lösungen, sagt Thomas Meißner vom AnbieterVerband qualitätsorientierter Gesundheitspflegeeinrichtungen (AVG). Im Gespräch mit Gesundheitsstadt Berlin verrät der Pflegeexperte und Chef eines häuslichen Krankenpflegedienstes, wie man Menschen in den Pflegeberuf locken könnte und warum seine Branche noch ganz andere Sorgen hat als die Personalfrage.
Will nicht jammern, sondern Lösungen aufzeigen: Thomas Meißner vertritt die Interessen der knapp 700 ambulanten und teilstationären Pflegedienste in Berlin

Will nicht jammern, sondern Lösungen aufzeigen: Thomas Meißner vertritt die Interessen der knapp 700 ambulanten und teilstationären Pflegedienste in Berlin

Herr Meißner, lassen Sie uns über die ambulante Pflege sprechen. Wie viele Pflegekräfte fehlen derzeit in Berlin?

Meißner: Es gibt keine konkrete Zahl. Aber es ist auch unerheblich, ob nun 2.000 oder 6.000 fehlen, wir werden sie sowieso nicht reinholen können. Ich sage es mal so: Mein Betrieb muss jede Woche zwischen 15 und 20 Patienten ablehnen. Wenn Sie das mit den rund 680 ambulanten Pflegdiensten in Berlin multiplizieren, wissen Sie, über welche Größenordnungen wir hier reden.

Leasinganbieter können das Problem offenbar auch nicht lösen?

Meißner:  Leasingdienste sind mittlerweile so teuer geworden, das ist ein massives Problem. Ursprünglich war eine Leasingkraft dazu gedacht, Spitzen abzufangen. Dafür bekommen Sie aber niemanden mehr. Sie müssen Leihpersonal gleich für drei oder vier Wochen buchen. Die Kosten bekommen wir aber nicht refinanziert. Die Pflegeversicherung ist schließlich ein gedeckeltes System. Wenn sich unsere Preise erhöhen, dann kürzen unsere Kunden die Leistungen. Das erleben wir besonders bei den Berliner Sozialhilfeträgern. Wenn die einen Teil der Pflegekosten übernehmen, dann wird gekürzt nach dem Motto ein warmes Mittagessen zweimal in der Woche muss reichen. Wie soll ich da seriös kalkulieren? Und Leihkräfte für 50 Euro die Stunde bezahlen?

Sie arbeiten direkt an der Front. Warum ist es so schwer, junge Menschen für den Pflegeberuf zu begeistern?

Meißner:  Ich bin jetzt 32 Jahre dabei und sage: Ambulante Pflege ist ein toller Job. Aber auch herausfordernd. Sie müssen sich 15 Mal am Tag auf eine neue Lebenssituation einstellen, sind der Psychologe der Patienten und dann werden Sie von Angehörigen gefragt, warum sie nicht auch den Müll mit runternehmen oder morgens Brötchen mitbringen. Ich antworte dann immer: Haben Sie das Ihren Elektriker auch schon mal gefragt? Viele sehen einfach nicht, was unsere Kollegen Tag für Tag leisten. Und wenn Sie fragen, ob der Pflegeberuf noch mit den Vorstellungen der jungen Generation von Work-Life-Balance und Selbstverwirklichung zusammenpasst, da werden Sie schnell feststellen: Das passt nicht.

Warum?

Meißner:  Pflege ist ein 24 Stunden Job, da müssen Sie auch dann arbeiten, wenn andere Feierabend haben. Darum wandern auch so viele Pflegekräfte in andere Bereiche ab. Gerade in Berlin gibt es für Pflegekräfte extrem viele andere Beschäftigungsmöglichkeiten. Wir schaffen hier ja auch immer mehr Jobs um die eigentliche Pflege drum herum, zum Beispiel im Krankenhausmanagement oder in der Beratung. Nur keiner will mehr die eigentliche Versorgung machen.

Bessere Arbeitszeiten so wie in der Verwaltung lassen sich wohl kaum realisieren?

Meißner:  Da gibt es eine ganz einfache Antwort: Die ungünstigen Zeiten müssen mit besseren Zuschlägen vergütet werden – sagen wir 300 Prozent. Wenn wir so viel für Spät- und Wochenenddienste zahlen würden, dass keiner mehr von montags bis freitags arbeiten will, haben wir das Problem gelöst.

Also geht es doch ums Geld?

Meißner:  Stellen Sie sich vor, Sie würden an einem Wochenende bei uns so viel verdienen wie sonst in einer Woche oder in zwei Wochen. Was glauben Sie, wie viele Bewerber wir dann hätten. Die Idee, dass Pflege allein dienen und helfen ist, passt einfach nicht mehr in die Zeit. Wir müssen neue Anreizsysteme schaffen. Es gibt so viele Möglichkeiten. Das können auch steuerliche Anreize sein. Warum sollten nicht 20.000 Euro für Pflegeberufe steuerfrei sein? Oder eine Bevorzugung bei der Wohnungssuche. Aber all das bitte nur für Pflegekräfte, die direkt am Patienten arbeiten.

Andere Berufsgruppen würden da sicher auch ganz schnell Bedarf anmelden.

Meißner:  Natürlich. Und vielfach auch zu recht. Ich denke die Gesellschaft muss beantworten, wie viel ihr Versorgungssicherheit wert ist. Für mich ist sie gleichberechtigt wie die Sicherheitsarchitektur in Europa. Und ich sehe auch nicht ein, warum eine Pflegekraft weniger verdient als das Management. Wenn wir die Versorgung sicherstellen wollen, müssen wir diese Frage klären.

Nun sind Sie selbst Manager eines mittelständischen Pflegebetriebes mit rund 60 Mitarbeitern. Der Fachkräftemangel ist sicher nicht Ihr einziges Problem?

Meißner:  Gewiss nicht. Wir werden wie andere auch von den steigenden Sprit- und Energiekosten aufgefressen. Dazu noch mit immer neuen Anforderungen überschüttet. Da fordert die Senatsverwaltung zuerst einen Katastrophenschutzbeauftragen, im Sommer hieß es dann, wir brauchen einen Hitzebeauftragten. Wie soll das gehen, wenn ein Betrieb nur neun Beschäftigte hat? Da hat jeder zwölf Funktionen. Oder plötzlich wird eine lebenslange Beschäftigungsnummer eingeführt und parallel dazu ein Heilberufeausweis, damit wir an der Telematikinfrastruktur teilnehmen können. Und das macht man an zwei verschiedenen Verwaltungen. Wir müssen also alles doppelt beantragen. Das sind nur ein paar Beispiele, die zeigen, wie man den Mittelstand hier überfordert.

Ist das ein Berlin-spezifisches Problem?

Meißner:  Hamburg hat vor Jahren eine Verwaltungsreform gemacht. Berlin hat das nicht geschafft. Jeder Bezirk macht hier, was er will. Und die Digitalisierung ist nach wie vor ein ganz großes Problem. Das Formular, das ich früher mit der Hand ausfüllen musste, muss ich nun an Computer bearbeiten. Man hat also einfach die analogen Prozesse übernommen und nennt das Digitalisierung. So geht das nicht. Digitalisierung muss man ganz neu denken. Im Vergleich zu anderen Regionen sind die Digitalisierung und die Verwaltungsstrukturen in Berlin unterirdisch. Wir brauchen dringend eine Verwaltungsreform.

Läuft in Berlin denn auch irgendetwas gut?

Meißner:  Gut gelaufen ist in Berlin die tariftreue Umstellung der Verträge, das heißt die Leistungsentgelte wurden zum 1. September um 22 Prozent angehoben. Das ist sicher ein Grund, warum es hier anders als etwa in Bremen noch keine Insolvenzen gibt. Den Preis dafür zahlen allerdings die Patienten.

Thomas Meißner ist stellv. Vorsitzender des AnbieterVerband qualitätsorientierter Gesundheitspflegeeinrichtungen e.V. (AVG) - der Berufsstandsvertretung für ambulante und teilstationäre Pflege. 1991 hat sich der gelernte Krankenpfleger im Bereich ambulante/ teilstationäre Pflege selbstständig gemacht. Heute hat sein Betrieb in Alt-Biesdorf 60 Mitarbeiter.

Hauptkategorien: Gesundheitspolitik , Pflege
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