Missbrauch beeinträchtigt Reflexionsfähigkeit bei Kindern
Kindern, die Missbrauch erlebt haben, fällt es oft schwer, über sich und andere zu reflektieren und Gefühlszustände und Motivationen adäquat zu beschreiben. Professor Karin Ensink von der Laval University in Québec (Kanada) untersuchte nun mit ihrem Team, wie reflexions- und empathiefähig Kinder sind, die sexuellen Missbrauch erlebt haben. Dabei befragten die Psychologen 94 Mutter-Kind-Paare, bei denen die Kinder zum Teil Missbrauchsopfer waren und zum Teil keine solchen Erfahrungen gemacht hatten. Im Durchschnitt waren die Kinder zwischen neun und zehn Jahre alt. Die meisten Missbrauchsopfer waren Mädchen.
Um die Ergebnisse nicht zu verzerren, hatten die Forscher Kinder aus ähnlichen sozioökonomischen Verhältnissen ausgesucht. Die Mütter und Kinder wurden nun von geschulten Studienmitarbeitern befragt. Dabei sollten die Kinder erzählen, was sie selbst in bestimmten Situationen fühlen und denken und wie ihrer Ansicht nach ihre engsten Bezugspersonen fühlen. Auch die Mütter wurden zu ihren Vorstellungen über ihre Kinder und ihre eigene Beziehung zu ihnen befragt. Die Wissenschaftler ordneten die Antworten dann nach dem Bewertungsmaßstab für die Fähigkeit zur Reflexion und Einfühlung, dem „Reflective Functioning Score“, ein.
Kinder mit Missbrauchserfahrung hatten schlechteren Reflexions-Score
Wie sich zeigte, konnten die missbrauchten Kinder tatsächlich signifikant schlechter reflektieren als die anderen. Zudem gaben Kinder, die Missbrauchserfahrungen hatten, scheinbar unpassende Antworten. So reagierten sie auf Fragen wie „Wann hattest du das letzte Mal Spaß mit deiner Mama?“ zum Beispiel mit folgenden Antworten: „Ich habe ein Video von der Sesamstraße“ oder „Es macht mir Spaß, mit Mama zusammen zu sein.“ Auf eine Frage wie „Was passiert, wenn dein Papa böse mit dir wird?“ sagten sie hingegen oft „Ich weiß nicht.“ Auch gehen sie insgesamt selten auf Gefühlszustände ein. Kinder, die innerhalb der Familie missbraucht wurden, wiesen dabei einen signifikant schlechteren Reflexions-Score auf, als Kinder, die außerhalb der Familie sexuell missbraucht worden waren.
Missbrauchsopfer vermeiden Einfühlung
Experten erklären sich diesen Mangel in der Reflexionsfähigkeit damit, dass Kinder über die Spiegelung mit den Eltern lernen, eigene und fremde Gefühle zu verstehen und einzuordnen. So imitieren Eltern normalerweise die Gesichtsausdrücke ihrer Kinder und verbalisieren dabei die bei den Kindern vermuteten Gefühle. Indem die Eltern auf diese Weise Bezug auf das Seelenleben ihrer Kinder nehmen und deren Gefühle verbalisieren, lernen die Kinder, die eigenen Gefühle zu verstehen und Worte dafür zu finden.
Bei Gewalttätigkeit ist diese Kommunikation wesentlich gestört. Eine Folge davon kann eine fehlende Empathie-Entwicklung sein. Zwar beobachten missbrauchte Kinder ihre Umgebung oft ganz genau, doch fühlen sie sich meist nicht wirklich in die Personen ihrer Umgebung ein. Möglicherweise, so die Theorie mancher Psychologen, wäre das, was solche Kinder erkennen würden, zu bedrohlich. Die Vermeidung von Reflexion und Einfühlung wäre dann ein natürlicher Schutzmechanismus.
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