Kommt die Kinderlähmung wieder nach Europa?
In Syrien gibt es derzeit einen von der WHO bestätigten Polio-Ausbruch. Auch in Israel zirkulieren neuerdings Polioviren. Das Virus könnte aber auch unerkannt nach Europa eingeschleppt werden, warnen jetzt Prof. Dr. Martin Eichner vom Institut für Klinische Epidemiologie am Universitätsklinikum Tübingen und Stefan O. Brockmann vom Kreisgesundheitsamt Reutlingen in der online Ausgabe der Fachzeitschrift The Lancet.
Die Verbreitung des Virus könnte einerseits durch den Flüchtlingsstrom aus Syrien erfolgen, andererseits auch durch Reisende aus Israel, schreiben die beiden Autoren. Das Polio-Virus könnte aber auch indirekt über andere Länder zu uns gelangen. Besonders gefährdet seien Bosnien und Herzegowina, die Ukraine sowie Österreich, weil in diesen Ländern die Durchimpfungsrate gegen Polio besonders gering sei.
Kinderlähmung stellt in Deutschland seit Jahrzehnten keine Gefahr mehr dar
Über diese Wege könnte die Kinderlähmung auch wieder nach Deutschland gelangen. Dank eines Impfprogramms traten seit Jahrzehnten in Deutschland keine Fälle von Kinderlähmung mehr auf. Nur etwa einer von 200 Ungeimpften Infizierten entwickelt eine Kinderlähmung. Daher sei die Gefahr, dass das Virus unbemerkt über die Grenzen gelangt sehr groß. In unzureichend immunisierten Bevölkerungsgruppen könne sich das Virus ein Jahr lang unbemerkt ausbreiten, ohne sich durch Fälle von Kinderlähmung bemerkbar zu machen, so die beiden Gesundheitsexperten in The Lancet.
Polio-Viren könnten im Abwasser stecken
Die Autoren sind der Ansicht, dass das alleinige Impfen von Flüchtlingen nicht ausreichen könnte, um die Verbreitung auch nach Europa zu verhindern. Die derzeit eingesetzte Polio-Impfung mit inaktiven Polioviren (IPV) sei zwar hochwirksam gegen das Auftreten der Krankheit, schütze aber nur wenig vor einer Ansteckung und vor der Weiterverbreitung des Virus. Die Schluckimpfung könnte nach Ansicht der beiden Wissenschaftler effektiver eine Verbreitung des Polio-Virus verhindern. Das wird aber wohl kaum möglich sein: Die Schluckimpfung mit oralem Polio-Impfstoff wurde in West-Europa abgesetzt, weil es gelegentlich zu Erkrankungen der Geimpften und ihrer Kontaktpersonen kam. Das Virus wird bei der oralen Impfung nämlich über den Verdauungstrakt ausgeschieden und birgt ein - wenn auch geringes - Ansteckungsrisiko.
Dort, wo sich syrische Flüchtlinge aufhalten oder aus anderen Gründen eine erhöhte Wachsamkeit geboten scheint, sollten regelmäßig Abwasserproben auf Polio-Viren untersucht werden, raten Eichner und Brockmann.
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