Körper, Geist und Seele in Einklang bringen – um Krankheiten vorzubeugen und zu heilen? Was für manchen Zeitgenossen nach esoterischem Hokuspokus klingt, hat Sebastian Kneipp immerhin von seiner Tuberkuloseerkrankung geheilt. Gut 150 Jahre ist das nun her. „Die Natur ist die beste Apotheke“, hat der Pfarrer aus Bayern damals gesagt und aus den Grundprinzipien Wasser, Pflanzen, Bewegung, Ernährung und Balance einen ganzheitlichen Ansatz gemacht: die Kneipp-Medizin.
Heute ist die Kneippsche Gesundheitslehre alles andere als vergessen, ganz im Gegenteil. Etliche Umfragen zeigen, dass sich zwei Drittel der Deutschen auch mit Naturheilverfahren behandeln lassen möchten. Prof. Andreas Michalsen sieht darin keinen Widerspruch zur modernen Schulmedizin: „Naturheilkunde soll die Schulmedizin unterstützen - nicht ersetzen“, sagt der Chefarzt der Abteilung für Naturheilkunde am Immanuel Krankenhaus Berlin-Wannsee und Lehrstuhlinhaber für Naturheilkunde an der Charité. Darum spreche man auch von Komplementärmedizin.
Anwendungen stimulieren das Immunsystem
Kneipp-Anwendungen stehen in Michalsens Abteilung darum auf der Tagesordnung. Die berühmte Wasser-Therapie zum Beispiel soll Selbstheilungskräfte mobilisieren und Krankheitssymptome lindern. Nicht zuletzt weil Sebastian Kneipp seine TB in der kühlen Donau auskurierte, empfiehlt die ursprüngliche Kneipp-Therapie regelmäßig natürliche Wasserreize zu nutzen. „Auf gut gesetzte Reize reagiert unser Körper mit einer gesundheitsfördernden Reaktion“, erläutert der Schulmediziner und Naturheilkundler Michalsen. „Denn erfrischende kalte Wassergüsse fördern im Nachgang die Durchblutung und stimulieren das Immunsystem.“
Selbst Patienten mit schweren Erkrankungen wie Krebs könnten davon profitieren, aber natürlich nur in Ergänzung zur konventionellen Therapie. „Durch diese Kombination können wir die Therapieerfolge erheblich steigern“, betont der Experte. Bloß in Notfallsituationen, etwa bei einem Herzinfarkt oder Unfall, sei für die Naturheilkunde kein Platz.
Prävention erlebt neuen Aufwind
Kneipps Lehre – manche nennen sie auch Philosophie – geht aber weit über physikalische Anwendungen hinaus. Sie bezieht den ganzen Menschen, seine Seele und seinen Lebensstil mit ein und wurde von ihrem Erfinder darum auch "Ordnungstherapie" genannt. Heute würde man das mit Mind-Body-Medizin übersetzen. Im Kern geht es um einen gesunden Geist in einem gesunden Körper. Das Konzept wird heute nicht nur in der Therapie, sondern vor allem auch zur Prävention von Krankheiten eingesetzt.
„Die Kneipp-Bewegung stellt ein wichtiges Element in der Krankheitsprophylaxe und gesunden Lebensführung dar“, sagt Dr. Miriam Ortiz vom Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Charité. Gerade vor dem Hintergrund des Präventionsgesetztes seien die lokalen Kneipp-Vereine unverzichtbarer denn je.
Davon ist auch Dr. Ellis Huber überzeugt. „Leben nach Kneipp ist einfach, kostet fast nichts - nicht einmal viel Zeit - und bringt den Menschen in Bewegung. Das macht gesund oder noch gesünder, bewirkt ein hoch wirksames Immunsystem, umfassende Fitness, überdurchschnittliche Stressresistenz und gute Stimmung“, meinte der Mediziner auf der 125. Jahresfeier des Kneipp Vereins Berlin am 22. April.
Ulf Fink setzte den ersten Lehrstuhl für klinische Naturheilkunde durch
Huber hielt an diesem Tag die Laudatio auf den früheren Sozial- und Gesundheitssenator Ulf Fink. Ihm war das Goldene Ehrenzeichen des Kneipp-Bundes e.V. verliehen worden, weil er sich während seiner Amtszeit für die akademische und universitäre Verankerung der Naturheilkunde eingesetzt hatte. 1988 setzte Fink den ersten Lehrstuhl für klinische Naturheilkunde durch. So entstand in Berlin - an der Charité und im Immanuel Krankenhaus am Wannsee - Europas größtes Zentrum für Naturheilkunde mit inzwischen drei Professuren.
Auch die Heilkunde nach Pfarrer Sebastian Kneipp wird hier gezielt gefördert und weiter entwickelt: In beiden Einrichtungen werden die Kneipp-Verfahren bei unterschiedlichsten Erkrankungen und Beschwerdebildern wissenschaftlich erforscht. „Mehr und mehr wissenschaftliche Studien zeigen, dass es für die Gesunderhaltung und für die Behandlung chronischer Erkrankungen günstig ist, sich natürlichen Reizen verschiedener Art regelmäßig auszusetzen“, erklärt dazu Andreas Michalsen.
Mehr Evidenz als in der Schulmedizin
An der Charité und im Immanuel Krankenhaus wird Kneipp gerne mit fernöstlichen Entspannungstechniken, Akupunktur und Heilfasten kombiniert. Das steigert den Behandlungserfolg. Auch der Kneipp-Verein Berlin, in dessen ärztlichem Beirat Michalsen und seine Charité-Kollegin Miriam Ortiz sitzen, bietet heute neben den typischen Kneipp-Anwendungen und Wandergruppen Qigong, Yoga oder Tai Chi an. Viele Krankenkassen bezuschussen das inzwischen, weil man weiß, dass Selbstheilungskräfte billiger als Medikamente, Arztbesuche und Klinikaufenthalte sind.
Die Gesundheitslehre nach Sebastian Kneipp wurde 2015 übrigens von der UNESCO als Kulturerbe anerkannt. Ein verstaubtes Image hat sie dennoch nicht. Laut Michalsen hat die Naturheilkunde einen Imagewandel erfahren – weg aus der Esoterikecke hin zu evidenzbasierter Medizin: „Etwa 50 Prozent der Therapien, die wir hier im Krankenhaus anbieten, wurden in Studien evaluiert“, sagt der Chefarzt. „Das ist mehr als in der Schulmedizin.“
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