Jungen - das missverstandene Geschlecht?
„Diagnose Junge – Pathologisierung eines Geschlechts“. Der Titel der Veranstaltung im Hotel Aquino war provokant gewählt. Immer wieder berichten auch die Medien – meist im Zusammenhang mit der Diagnose Aufmerksamkeitsdefizitstörung/ADHS und der damit oftmals einhergehenden Verschreibung von Ritalin – über das Thema Jungengesundheit. Doch so populistisch das Thema ist – so ernst ist es auch: Rund fünf Prozent der Jungen leiden unter einer solchen Störung – statistisch gesehen also etwa ein Kind pro Klasse. Warum ist das so? Wird da ein ganzes Geschlecht einfach nur krank gemacht – oder macht der falsche Umgang der Gesellschaft mit Jungen diese krank?
Jungen leben gefährlicher als Mädchen - und werden öfter als Zappelphilippe eingestuft
„Jungen stoßen in ihrer Entwicklung immer mehr an Grenzen“, stellte Peter Lehndorfer fest. „Es fehlt eine öffentliche Diskussion, was Jungen brauchen und was wir für Jungen tun können, damit sie besser und gesünder durch das Leben kommen. Es ist an der Zeit darüber nachdenken, wie wir die Gefährdungen von Jungen in unserer Gesellschaft verringern. Das Präventionsgesetz bietet die Chance, die Weichen für eine nachhaltige geschlechtergerechte Entwicklungs- und Gesundheitsförderung zu stellen.“ Die Zahlen, die Lehndorfer vortrug, sprechen für sich: Jungen sind bei ihrer Geburt das häufigere Geschlecht. 51,3 Prozent der Neugeborenen sind männlich. Schon durch den plötzlichen Kindstod sterben jedoch deutlich mehr Jungen als Mädchen. Das gefährlichste Alter für Jungen beginnt mit ihrem 15. Lebensjahr. Fast drei von vier Jugendlichen, die im Altern zwischen 15 und 20 Jahren ums Leben kommen, sind männlichen Geschlechts. Grund sind vor allem tödliche Verletzungen. Ab dem 7. Lebensjahr ist das Risiko für einen Jungen, an ADHS zu erkranken, viermal höher als bei einem Mädchen. Sie erhalten aufgrund psychischer Störungen mehr als doppelt so häufig Antipsychotika wie Mädchen. Sie benötigen auch deutlich häufiger eine Behandlung im Krankenhaus: 43,5 Prozent der Kinder und Jugendlichen in psychiatrischen Abteilungen sind Mädchen, aber 56,5 Prozent sind Jungen. Familien mit Jungen benötigen auch deutlich häufiger erzieherische Hilfen durch das Jugendamt, insbesondere im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren.
Jungen psychisch stärker belastet als Mädchen - sie brauchen mehr Unterstützung
„Psychische Erkrankungen sind genetisch, psychisch und sozial bedingt. Die Belastungen für Jungen sind in unserer heutigen Gesellschaft offenbar deutlich anders als für Mädchen“, stellt BPtK-Vorstand Lehndorfer fest. „Es kann aber keine Lösung sein, so lange abzuwarten, bis wir auffällig gewordene Jungen besonders fördern oder psychisch krank gewordene Jungen behandeln müssen. Deshalb sollten wir Antworten auf die Frage finden, was wir an den Lebensbedingungen, unter denen Jungen aufwachsen, und an den gesellschaftlichen Einstellungen, Werten und Strukturen verändern können, damit Jungen in einer Welt leben können, die besser zu ihnen passt und die sie weniger gefährdet.“
Einen Erklärungsversuch unternahm Thomas Altgeld, Experte für Männergesundheit, Kindergesundheit und Prävention: Die Kindheit habe sich stark verändert. „Wir haben heutzutage eine verinselte Kindheit, in der dem Spielen und Erkunden kaum noch Raum gegeben wird. Die Erfahrungen, die unsere Kinder machen, sind Erfahrungen aus 2. Hand.“ Sein Lösungsvorschlag: „Wir müssen die Lebenskompetenzen von Kindern und Jugendlichen fördern, statt sie immer wieder vor allem bewahren zu wollen“, so der Psychologe.
Prof. Dr. Sabine Walper, Forschungsdirektorin beim Deutsche Jugendinstitut e.V., warf einen entwicklungspsychologischen Blick auf das Thema: „Männer denken anders als Frauen – und Jungen anders als Mädchen. Sie sind vulnerabler und brauchen mehr emotionale Sicherheit als Mädchen.“ Gerade das aber sei für Jungen nicht so anerkannt wie für Mädchen, weswegen diese sich oft von zu gefühlsbetontem Vergalten distanzieren. „Unter den Peers geht es vor allem darum, bloß nicht so zu sein wie die Mädchen“, beschrieb Prof. Walper. „Das Lernen von Rollenvorbildern ist in dieser Entwicklungsphase der wichtigste Bestandteil der neurobiologischen Entwicklung, so die Professorin für Pädagogik an der LMU München.
Dr. Hans Hopf, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut und Autor vieler Bücher zum Thema Jugendgesundheit, sah vor allem drei Ursachen für das häufigere Auftreten von Entwicklungsstörungen bei Jungen: „Eine aufgeregte Gesellschaft, fehlende Spielräume und ein beschleunigtes Leben.“ Darüber hinaus sieht er eine zunehmende „Laxheit in der Erziehung“ und „die Angst davor, autoritär zu sein, auch einmal Nein zu sagen.“ Stattdessen werde in den Familien über früher selbstverständliche Rahmenbedingungen diskutiert. Das treffe vor allem die Jungen. Diese bräuchten noch mehr als die Mädchen ganz klare Strukturen, in denen sie sich bewegen können.
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