In der Pandemie und danach: Warum das Engagement der Zivilgesellschaft so wichtig ist

Nachbarschaftshilfe: Nur ein Beispiel für die Vielfalt zivilgesellschaftlichen Engagements in der Coronakrise. – Foto: AdobeStock/Peter Maszlen
Am Anfang der Pandemie, als jede Schutzausrüstung fehlte, nähten unterbeschäftigte Mode-Labels freigiebig Masken: für Organisationen der Zivilgesellschaft, von denen mehr als 800 in Berlin aktiv sind. Solidarität und Anteilnahme waren vielerorts zu spüren. Inzwischen machen sich bei vielen Akteuren der Zivilgesellschaft aber auch Frust und Ernüchterung breit und das Gefühl, von der Politik alleingelassen und teils sogar ausgebremst zu werden. So verlangte soeben eine Behörde von einer Hilfsorganisation für Behinderte, die schon 25 Mal mit Erfolg eine Wohngemeinschaft eingerichtet hat, diesmal neben dem Kaufbeleg auch ein Foto von der neuen Waschmaschine vorzulegen – als bombensicheren Beweis, dass diese Waschmaschine auch wirklich existiert und auch wirklich dort aufgestellt worden ist.
„Staat hat Angst vor Freiheits- und Gestaltungsspielräumen“
„Berlin konnte sich in der Krise auf das hohe Engagement der haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter zivilgesellschaftlicher Organisationen verlassen“, sagte Gabriele Schlimper, Geschäftsführerin des Berliner Landesverbands des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, auf einer Online-Fachtagung ihrer Organisation mit dem Verein Gesundheitsstadt Berlin. Trotzdem erlebten viele dieser Organisationen die Resonanz des Staates auf ihren Einsatz als zwiespältig: gewollt und gefördert hier – kontrolliert und behindert da.
„Einerseits ist sehr viel Geld im System zur Unterstützung der Zivilgesellschaft in dieser Stadt“, sagte Schlimper. „Andererseits kann man den Eindruck gewinnen, dass die staatlichen Akteure in dieser Stadt Angst vor Freiheits- und Gestaltungsspielräumen ihrer eigenen Bürger haben", sagte Franz Dormann, Mitveranstalter und Geschäftsführer des Vereins Gesundheitsstadt Berlin. Dabei habe die Pandemie vor Augen geführt, wie sehr der Staat auf die Kräfte der Zivilgesellschaft angewiesen sei.
Viele Organisationen waren „komplett stillgelegt“
„Die Pandemie hat alle gesellschaftlichen Bereiche getroffen – die Zivilgesellschaft aber teilweise besonders“, sagte Eckhard Priller vom Maecenata Institut für Philanthropie und Zivilgesellschaft in seinem Lagebild. Ein Großteil der mehr als 25.000 Vereine, Verbände und Organisationen habe ihre Aktivitäten einschränken müssen oder sei komplett stillgelegt gewesen. Typischerweise seien jüngere Senioren besonders engagiert und viele Ältere Nutznießer von Hilfsangeboten. Aktive wie Empfänger gehörten damit zu den Hauptrisikogruppen.
Umstellung von „Komm-" auf „Geh-Strukturen"
Trotzdem hätten viele Akteure sehr initiativ und kreativ reagiert, dringlich erforderliche Leistungen erbracht und vielfältige Zeichen der Solidarität gesetzt. Ein zu beobachtendes Muster sei die Umstellung von Komm- auf Geh-Strukturen, was bedeutet: Hilfsbedürftige kamen nicht mehr in die Einrichtung – sie wurden von Mitarbeitern stattdessen zu Hause aufgesucht. Ein anderes Muster sei eine verstärkte Nutzung von digitalen beziehungsweise Tele-Formaten: Online-Fragestunden, Webinare, Rechtsberatungs-Hotlines.
Zivilgesellschaft leistet, was Staat und Wirtschaft nicht können
Ein weiterer neuralgischer Punkt sei die Verantwortung, aber auch die Übermacht der Politik, sagte Priller. Der Staat habe in der Coronakrise einerseits eine enorme Handlungsfähigkeit bewiesen. Andererseits habe er aber „nach innen mit Beschränkungen und Förderprogrammen durchregiert. Die Zivilgesellschaft bis hin zu den BürgerInnen und ihren VertreterInnen im Bundestag und den Landesparlamenten wurden häufig zu Zuschauern degradiert.“
Die dadurch entstandene Sprach- und Handlungslosigkeit stelle für die organisierte Zivilgesellschaft eine nicht zu unterschätzende Gefahr dar, denn: „Gerade in Krisenzeiten muss die Zivilgesellschaft etwas leisten, was Staat und Wirtschaft nicht können.“ Die Zivilgesellschaft müsse künftig ihre Krisenkommunikation deutlich verbessern, um für Mitarbeiter, Adressaten und Politik deutlich sichtbar zu bleiben. „Der Anspruch eines Auftretens auf Augenhöhe mit dem Staat darf nicht ad acta gelegt werden“, sagte Priller.
Nach Corona kommt „Aufbruchs- und Wiederaufbauphase“
Die frühere baden-württembergische „Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung“, Gisela Erler, prognostizierte in einem zweiten Expertenreferat für die nächsten Monate und Jahre eine „gesellschaftliche Aufbruchs- und Wiederaufbauphase“. Angesichts der wegen der Corona-Pandemie entstandenen Rekord-Staatsverschuldung warnte Erler vor möglichen erbitterten Verteilungskämpfen um finanzielle Mittel zu Lasten von kleineren zivilgesellschaftlichen Projekten.
Kleine Projekte: „Vitaminspritzen für die Gesellschaft“
Grünen-Politikerin Erler sagte dazu wörtlich: „Förderprojekte mit 1.000 oder 2.000 Euro: Das sind oft Hebel, mit denen Leute mit wenig Geld viel bewegen. Das sind die Regenerations- und Vitaminspritzen für die Zivilgesellschaft und die Gesellschaft insgesamt.“ Nach Aussagen von Paritäts-Geschäftsführerin Schlimper sind rund 80 Prozent der zivilgesellschaftlichen Akteure in Berlin kleine Organisationen, die maßgeblich von ehrenamtlichem Engagement getragen sind: Stadtteilzentren, Nachbarschaftseinrichtungen, Schuldnerberatungen.
Tapfer sein in der Krise: „Starke zivilgesellschaftliche Leistung“
Auf die Bedeutung zivilgesellschaftlicher Institutionen für den Zusammenhalt der Gesellschaft wies die stellvertretende Fraktionschefin der SPD im Abgeordnetenhaus, Ülker Radziwill, hin. Am lautesten und aufgrund spektakulärer bis militanter Aktionen am stärksten wahrnehmbar sei in der Krise die Gruppe gewesen, die sich selbst als „Querdenker" bezeichnet. Die stärkste Leistung hätten aber diejenigen erbracht, die Vernunft und Disziplin bewiesen und im Stillen gehandelt hätten. „Die einen waren vielleicht laut, aber die anderen waren die Mehrheit“, sagte die SPD-Politikerin. „Sie waren verlässliche Unterstützer von notwendigen politischen Entscheidungen, auch wenn sie unpopulär waren. Das war eine sehr starke zivilgesellschaftliche Leistung.“
„Dritter Raum“ zwischen Familie und Arbeit weggebrochen
Als ein zentrales existenzielles Thema für zivilgesellschaftliche Organisationen und vor allem die Non-Profit- oder Low-Budget-Projekte identifizierten verschiedene Podiumsgäste das Problem verfügbarer und bezahlbarer Räume. „In der Corona-Krise ist der Bereich des ‚Dritten Raums‘ bei vielen komplett weggebrochen“, sagte die Fraktionschefin der Linken im Berliner Abgeordnetenhaus, Anne Helm. Damit gemeint sind Orte und Anlaufstellen für den persönlichen und gesellschaftlichen Austausch jenseits von familiärem Umfeld und Arbeitsplatz. Dieser Bereich sei für eine intakte Gesellschaft, vor allem in der Großstadt „nicht nice to have‘ – sondern obligatorisch“.
Immobilienmarkt: „Neuer Hausbesitzer, zack ist die Kita raus“
Grünen-Politikerin Susanna Kahlefeld forderte dringend eine politische Kehrtwende im Gewerbe-Mietrecht auf Bundesebene. „Viele der zivilgesellschaftlichen Organisationen müssen für ihre Arbeit Gewerberäume anmieten“, sagt Kahlefeld. „Und Sie wissen alle: Es gibt kein Gewerbe-Mietrecht. Ein Haus wird verkauft, ein neuer Besitzer kommt rein – zack, ist unten die Kita raus, die Behindertenwohnung oder der kleine Verein, der Bürger berät.“ Die aggressive Geschäftspraxis vieler Immobilien-Investoren gefährde oder zerstöre die soziale Infrastruktur mit ihren vielen kleinen Einrichtungen in Berlin. „Die sind Freiwild“, sagte Kahlefeld. Die Stadtplaner müssten gerade auch in neuen Quartieren an eine Schaffung solcher Räume denken.
Zwischennutzungsagentur soll kurzfristig Räume schaffen
Um diesen „dritten Raum“ aus dem Online-Bereich in die Realität zurückzuholen, sprach sich FDP-Fraktionschef Sebastian Czaja, für eine Stärkung der Zwischennutzungsagentur aus, die vorübergehend leer stehende Räume oder Flächen vermittelt. So könnten auch kurzfristig Bewegungsräume und Kulturorte geschaffen werden. Längerfristig könne jedoch nur eine „extrem hohe Bautätigkeit in der Stadt“ die Lösung sein.
Forderung nach „Rundem Tisch“ und Enquete-Kommission
Einhellig forderten die Podiumsgäste über alle Parteigrenzen hinweg für Berlin die Einrichtung einer Enquete-Kommission oder eines „Runden Tisches", um die Pandemieschäden bei zivilgesellschaftlichen Organisationen zu reparieren und sie stark zu machen für die Regenerationsphase nach der Pandemie und mögliche künftige Krisen. CDU-Fraktionschef Burkhard Dregger sprach sich dafür aus, dass der Staat sich darauf beschränken solle, den rechtlichen Rahmen zu setzen und mit Fördermitteln zu helfen. „Der Staat hat sich herauszuhalten, denn die Menschen sind freie Subjekte, und sie sollten ihre Talente und Fähigkeiten nicht begrenzt bekommen durch einen paternalistischen Staat, der glaubt, er müsste nun alles regeln.“
Zufallsbürger-Gremium: „Erfrischendes Korrektiv"
Ex-Staatsrätin Erler steuerte eine Erfahrung aus ihrer Zeit in Baden-Württemberg bei. Sie kam in ihr Amt, weil die damalige grün-rote Landesregierung angesichts der heftigen Auseinandersetzungen um den Neubau des Stuttgarter Hauptbahnhofs das Land durch mehr Bürgerbeteiligung befrieden wollte. „Ich habe mehrere runde Tische moderiert“, sagte Erler. Oft säßen da viele Akteure mit vielen unterschiedlichen Interessen – doch häufig ließen griffige Ergebnisse oder vernünftige Kompromisse auf sich warten.
„Ich mache nichts mehr in dieser Art, ohne parallel einen Zufallsbürgertisch einzurichten“, berichtet Erler. Bei solchen gezielt mit Laien bestückten Gremien würde der gesunde Menschenverstand ganz normaler Bürger genutzt: Welche Prioritäten sehen Menschen, Männer, Frauen, Junge, Alte, Deutsche, Ausländer, wenn man sie mit Fragen konfrontiert und ihnen einen guten Input gibt? Was ist für sie plausibel als Lösung? Solche Zufallsbürger-Zirkel, sagt Erler, seien häufig eine ergiebige Quelle für neue Akzente und „ein erfrischendes Korrektiv“. In Baden-Württemberg jedenfalls ist die Zufriedenheit der Einwohner mit der Landes-Demokratie inzwischen um messbare 8 Prozent höher als in anderen Bundesländern.
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Nach dem Ende der zweiten Corona-Welle, im Juli 2020, hatten Experten aus Gesundheitswesen und -politik bei einer Talkrunde von Gesundheitheitsstadt Berlin bereits einer medizinisch-politische Zwischenbilanz der Pandemie gezogen.