Haben Psychopillen Andreas L. psychotisch gemacht?
In einem sind sich Fachleute einig: Depressive Menschen tun so etwas nicht. Sie bringen kein Flugzeug mit 150 Menschen absichtlich zum Absturz, wie es Andreas Lubitz am 23. März mit Germanwings Flug U49225 offenbar getan hat. Nahezu jeder Psychiater, der sich bislang zu dem tragischen Flugzeugunglück öffentlich geäußert hat, beschreibt Depressive als vorwiegend friedliebende, zurückgezogene Menschen. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), der Berufsverband Deutscher Nervenärzte und der Berufsverband Deutscher Psychiater unterstreichen in einer gemeinsamen Erklärung vom 2. April, dass zwar 90 Prozent der Suizide auf eine psychische Erkrankung zurückzuführen seien. „Dabei werden die Suizide aber fast ausschließlich alleine durchgeführt“, betonen die Experten. In der Luftfahrt sei gerade mal ein einziger Fall zweifelsfrei belegt, bei dem ein Pilot absichtlich eine Passagiermaschine abstürzen ließ. Ohne die genau Diagnose von Andreas Lubitz zu kennen, sei es wenig förderlich über die Auslöser zu spekulieren. Andernfalls würden psychisch Kranke nur noch stärker stigmatisiert, warnen die Nervenärzte, Psychologen und Psychiater.
In seltenen Fällen können Antidepressiva die Persönlichkeit verändern
Während Ermittler derzeit zahlreiche Ärzte befragen, bei denen der Germanwings-Pilot Andreas Lubitz in Behandlung gewesen war, mehren sich Fragen, unter welchem medikamentösen Einfluss er eigentlich stand. Bekannt ist, dass Lubitz wegen einer mehrmonatigen depressiven Episode seine Ausbildung unterbrechen musste. Bekannt ist auch, dass Psychopharmaka in seiner Wohnung gefunden wurden.
Nach Auskunft des irischen Psychiaters und Pharmakologen Dr. David Healy ist es ein offenes Geheimnis, dass Antidepressiva in seltenen Fällen psychotische Zustände hervorrufen können. Unter Einfluss dieser Medikamente könnten Menschen im ungünstigsten Falle Dinge tun, die sie sonst nie tun würden, dazu zähle auch ein Mord, erklärt Healy auf seinem Blog, wo er zum aktuellen Fall des Co-Piloten Andreas Lubitz Stellung nimmt. Der Psychiater beruft sich in diesem Zusammenhang auf Studien, wonach Antidepressiva das Risiko für Suizide aber auch Massenmorde verdoppelten. „Antidepressiva haben Effekte wie Alkohol Effekte hat“, sagt Healy. „Sie betäuben und greifen in die Psyche des Menschen ein, was gewünschte, aber auch zerstörerische Effekte haben kann.“
Depressive neigen eher nicht zur Gewalt
Auch die Vereinigung „Depression-Heute“ hält es für möglich, dass Psychopharmaka die psychischen Probleme des Co-Piloten verschlimmert haben könnten. Antidepressive Medikamente könnten in seltenen Fällen Menschen komplett verändern, sagt deren Vorsitzender Dr. Peter Ansari „Wenn ein depressiver Mensch eine Gewalttat begeht, dann kann man davon ausgehen, dass er Medikamente eingenommen hat, die sein Wesen verändert haben“, meint der Depressionsforscher. „Davor muss gewarnt werden und nicht vor Menschen mit Depressionen.“
Welche Art Psychopillen Andreas Lubitz genommen hat, ist derzeit nicht bekannt. Experten gehen aber davon aus, dass er bei einer so langen „Karriere“ eine ganze Reihe verschiedener Psychopharmaka eingenommen haben könnte, möglicherweise auch Antipsychotika.
Antipsychotika hinterlassen messbare Veränderungen am Gehirn
Dass Neuroleptika, wie Antipsychotika noch vor 30 Jahren hießen, schwere Veränderungen im Gehirn verursachen können, ist seit langem bekannt. Kritische Psychiater wie Dr. Volkmar Aderhold vom Institut für Sozialpsychiatrie der Universität Greifswald warnen: Neuroleptika führen zu einer Schrumpfung des Gehirns – vor allem im Bereich der Frontallappen, die als Sitz der Persönlichkeit und des Sozialverhaltens gelten. Die hirnstrukturellen Veränderungen seien abhängig von Dosis und Dauer der Einnahme und könnten negative Auswirkungen auf die Neurokognition, die Positiv- und Negativsymptomatik und das soziale Anpassungsniveau mit sich bringen. Aderhold hat in einer Übersichtsarbeit sämtliche Langzeitstudien zur frontalen Hirnvolumenminderung bei Menschen mit einer Schizophrenie-Erkrankung analysiert und zur Behandlung mit Antipsychotika in Beziehung gesetzt. „Die Ergebnisse zeigen, dass es eine Evidenz für eine Volumenminderung grauer und weißer Substanz des Frontalhirns gibt, die sich nicht alleine durch die Erkrankung selbst erklären lässt, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Ausdruck einer langfristigen Antipsychotikawirkung auf das Gehirn ist“, schreibt Aderhold in seinem beim Springer-Verlag erschienen Abstract. Ob Antipsychotika der „Second-Generation“ einen längerfristigen Vorteil gegenüber der „First-Generation“ besäßen, sei noch unklar.
Medien greifen Gefahr von Psychopillen auf
Bereits Anfang 2013 geisterte das Thema „Hirnschwund durch Psychopillen“ durch deutsche Medien. Der SPIEGEL berichtete über zahlreiche „beunruhigende“ Studien, die der US-amerikanische Journalist Robert Whitaker in seinem Buch "Anatomy of An Epidemic“ zusammengetragen und im November 2012 auf dem DGPPN-Kongress in Berlin vorgestellt hatte. „Womöglich haben Psychopillen sogar schädliche Effekte, weil sie das Gehirn dauerhaft verändern - und seelische Störungen so verschlimmern oder gar auslösen“, zitierte der SPIEGEL den Buchautor. Zuletzt griff die FAZ das Thema im Januar 2015 auf. Unter der Überschrift „Wenn Psychopillen das Gehirn schrumpfen lassen“ wird unter anderem auch Aderholds Arbeit zitiert. Gegenüber der FAZ kritisierte der Psychiater, dass viel zu schnell die Dosis gesteigert werde, wenn die erhoffte Wirkung ausbleibe. „Dabei ist längst bekannt, dass dies in den meisten Fällen allenfalls die Nebenwirkungen erhöht und man sogar Gefahr läuft, eine Überempfindlichkeit am Dopaminrezeptor und damit letztlich durch die Medikamente eine Psychose zu induzieren.“
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