Existiert eine sogenannte „benigne“ oder gutarige MS? Viele Neurologen verneinen das. Die Erkrankung schreite immer voran, auch ohne sichtbare Symptome, und früher oder später mache sich das durch neurologische Ausfälle bemerkbar, so die Argumentation. Dennoch gibt es Langzeitstudien, die zeigen, dass zumindest ein gewisser Teil der MS-Patienten auch ohne Therapie über Jahrzehnte mehr oder weniger stabil bleibt und nur sehr geringe neurologische Ausfälle aufweist.
Klinischer Verlauf sehr unterschiedlich
Die derzeit vorliegenden Therapiestudien weisen darauf hin, dass der frühe Beginn einer Basistherapie bei Multipler Sklerose zu einer günstigeren Prognose führt. Dennoch ist der klinische Verlauf der MS grundsätzlich sehr variabel und folgt im Laufe der Jahre einem nicht vorhersehbaren Muster. Die Bezeichnung „benigne“ oder „gutartige“ MS stellt eigentlich keine Diagnose, sondern eine retrospektiv gestellte Prognose dar. Zudem ist umstritten, was genau eine „benigne“ MS überhaupt bezeichnen soll. Da jedoch etwa ein Fünftel der MS-Patienten nach 20 Jahren keine oder nur minimale Symptome aufweist, könnte bei diesen von einer gutartigen Form gesprochen werden.
Ob es diese benigne MS tatsächlich gibt, haben nun Forscher um Dr. Karen Chung vom UCL Institute of Neurology in London untersucht und ihre Ergebnisse beim diesjährigen Welt-MS-Kongress in Paris vorgestellt. Als Probanden dienten 132 MS-Patienten, die zwischen 1984 und 1987 mit einem CIS in die Studie aufgenommen worden waren. CIS steht für "clinically isolated syndrome" und meint ein Stadium, das in eine manifeste Multiple Sklerose übergehen kann. Innerhalb des Studienzeitraums sind 29 der Probanden verstorben, bei 19 von ihnen gilt die MS als Todesursache. 12 Patienten brachen die Studie vorzeitig ab.
Großer Teil der Probanden zeigte nur geringe Ausfälle
Die anderen Teilnehmer unterzogen sich alle fünf Jahre einer Magnetresonanztomografie (MRT), außerdem wurden sie zu ihren Einschränkungen befragt. Von den 91 Studienteilnehmern, die bis zum Ende dabei waren, entwickelten 30 Patienten (33 Prozent) keine Multiple Sklerose. 35 Probanden (44 Prozent) entwickelten eine schubförmig-remittierende MS und 26 (30 Prozent) eine sekundär-progressive MS. Nur elf der 61 MS-Patienten erhielten zu irgendeinem Zeitpunkt eine krankheitsmodifizierende Therapie. Solche Medikamente kamen erst rund zehn Jahre nach Beginn der Studie auf den Markt.
Für die Forscher war besonders interessant, dass 31 der 35 Patienten (88 Prozent) mit schubförmig-remittierender MS auch nach 30 Jahren noch einen EDSS-Wert von unter 3,0 hatten. Alle übten noch einen Beruf aus oder waren im normalen Rentenalter in den Ruhestand gegangen. Bei kognitiven Tests zeigte nur ein Patient aus dieser Gruppe milde Beeinträchtigungen. „Eine sehr stabile benigne MS existiert tatsächlich“, folgert Chung aus diesen Ergebnissen.
Verlauf der MS nicht vorhersagbar
Bei welchen Patienten die MS einen „gutartigen“ Verlauf nimmt und bei welchen nicht, lässt sich bislang jedoch nicht vorhersagen. Wurden die Charakteristika der Patienten mit späterem schweren und leichteren Verlauf verglichen, konnten keine deutlichen Unterschiede festgestellt werden. Andere Studien haben allerdings einige Merkmale zusammengetragen, die auf den weiteren Verlauf hindeuten könnten. So scheinen Patienten, die im Alter von unter 30 Jahren die Diagnose erhalten, eine etwas günstigere Prognose zu haben als diejenigen, bei denen die Krankheit später beginnt. Dasselbe gilt für MS-Patienten, die beim ersten Schub nur sensorische Probleme haben.
Auch weibliches Geschlecht und seltene Schübe scheinen eher mit einem günstigeren Verlauf assoziiert zu sein. Die Zahlen zu diesen Zusammenhängen sind allerdings nicht sehr aussagekräftig, und der Verlauf beim einzelnen Patienten bleibt zu jedem Zeitpunkt unvorhersehbar. Dennoch kann Chungs Fazit für frisch diagnostizierte Patienten ermutigend sein: „Es ist nicht ungewöhnlich, dass Patienten mit schubförmiger MS drei Jahrzehnte nach dem Krankheitsausbruch nur milde oder keine körperlichen und kognitiven Symptome entwickeln“, so die Studienleiterin.
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