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„Gesundheit ist mehr als die Abwesenheit eines Virus”

Montag, 11. Mai 2020 – Autor:
Die Corona-Krise macht einsam. Besonders hart getroffen sind alte Menschen in Pflegeheimen und Alleinlebende. Die Gerontologin Prof. Adelheid Kuhlmey von der Charité warnt vor den gesundheitlichen Folgen und fordert einen Schutz mit Augenmaß.
Prof. Adelheid Kulmey

Prof. Adelheid Kulmey

Frau Professor Kuhlmey, ältere Menschen sind in der Corona-Krise besonders zu schützen, heißt es. Kann man die Gruppe der über 60-jährigen überhaupt über einen Kamm scheren?

Adelheid Kuhlmey: Das kann man natürlich nicht. Alter ist sehr individuell und die biologische Funktionalität unterscheidet sich von Person zu Person. Es gibt 60-Jährige, die um zehn Jahre vorgealtert sind und umgekehrt, so dass wir hier biologisch Unterschiede von bis zu 20 Jahren sehen. Insgesamt hat sich das Alter verjüngt. Ein heute 70-jähriger Mann hat den gleichen funktionalen Status wie ein 65-jähriger vor 30 Jahren. Über die „Alten“ kann man auch deswegen nicht sprechen, weil in diese Alterskategorie Menschen zwischen 60 und 100 Jahren fallen. Das sind 40 Jahre!

Ab wann ist denn dann ein Mensch alt?

Adelheid Kuhlmey: Die biologische Definition besagt: Wenn die Hälfte der Geburtenkohorte verstorben ist, gilt jemand als alt. Das ist heute erst bei den 82- bis 83 jährigen der Fall.

Nun gehören weitaus jüngere Senioren in die Risikogruppe für COVID-19. Wie lässt sich das erklären?

Adelheid Kuhlmey: Der Punkt sind die Vorerkrankungen. Ko-Morbiditäten und nachlassende Funktionalitäten, die sich im Laufe der Jahre einstellen, sind die Risikofaktoren für einen schweren Krankheitsverlauf, nicht das Geburtsdatum. Dieser Zusammenhang müsste in der Corona-Debatte viel stärker herausgestellt werden. Unsere Warnung als Gerontologinnen und Gerontologen gehen dahin, dass daraus keine Altersdiskriminierung entstehen darf, nachdem wir uns seit Jahrzehnten für ein positives Altersbild einsetzen. Klar ist, dass Alter ist ein sozialer Marker ist, und wir haben gesellschaftliche Übereinkünfte, etwa dass man erst ab einem bestimmter Alter wählen oder heiraten darf und so weiter. Aber in dem Moment, wo ein bestimmtes Lebensalter zu einem Nachteil führt, da ist ein großes Stoppschild zu setzen. Und dieses Stoppschild setze ich besonders dort, wo es um die Bevormundung älterer Menschen geht.

Die Bewohner von Pflegeheimen wirken in der Corona-Krise indes ziemlich wehrlos, allein die wiederholten Infektionsausbrüche sind alarmierend. Woran liegt das?

Adelheid Kuhlmey: Dass es in den mehr als 14.000 Pflegeheimen in Deutschland immer wieder zu einzelnen Hotspots kommt, hat ersteimal etwas damit zu tun, dass diese Einrichtungen zu Krankenversorgungsstätten von sehr alten und sehr kranken Menschen geworden sind. Da wohnt nicht irgendwer, der auch ambulant versorgt werden könnte, wie es das Wort „Bewohner“ suggeriert. Nein, wir reden hier über 800.000 schwer pflegebedürftige Menschen mit einer sehr vulnerablen Gesundheit.

Und diese vulnerablen Menschen kann man nicht schützen?

Adelheid Kuhlmey: Für mich ist die Corona-Krise wie ein Brennglas, das uns die Schwächen und die Stärken unseres Gesundheitssystems vor Augen führt. Fit sind wir im Bereich der hoch technisierten, spezialisierten Notfallversorgung und Intensivmedizin, dafür ein dickes Lob. Aber in der stationären Langezeitversorgung sind wir nicht gut, um es freundlich auszudrücken. Wir haben vergessen, Sicherheitskonzepte auch für die Pflegeheime zu entwickeln, arbeiten seit Jahren mit zu wenig Personal, noch immer gibt es hier nicht einmal genügend Schutzausrüstungen. Das ist ein Skandal.

Die Ausbrüche sind nur die Spitze eines Eisbergs. Es wurden weitreichende Besuchsverbote verhängt. Was macht das mit den sehr alten und sehr kranken Menschen?

Adelheid Kuhlmey: Am Anfang waren die Besuchsverbote sicher gerechtfertigt, man musste die Reißleine ziehen. Aber jetzt müssen die Besuchseinschränkungen weg. Unbedingt und sofort. Einsamkeit ist eine große Gesundheitsgefahr. Es gibt hunderte Studien die zeigen, dass soziale Isolation krank macht, hauptsächlich psychisch, aber auch körperlich. Und wir wissen, dass sich bei alten Menschen der Grad der Verwirrung verschlimmert. Mich erreichen verzweifelte Briefe, dass der hochbetagte Vater nicht besucht werden kann. Das ist eine Katastrophe. Wir können nicht 800.000 Menschen allein lassen ohne die versorgende Säule von außen. Die Situation ist so nicht hinnehmbar.  

Wie kann man die Besuchsregeln lockern und trotzdem die Pflegebedürftigen schützen?

Adelheid Kuhlmey: Zuallererst brauchen wir Schutzkleidung für alle drei Gruppen die in den Pflegeheimen agieren - die Pflegekräfte, die Pflegebedürftigen und die Besucher. Das wäre das Minimum. Und dann müssen endlich Sicherheitskonzepte entwickelt werden. Zum Beispiel könnte man Räume schaffen, wo man sich trotzt Epidemie begegnen kann. Wir reden seit vielen Jahren über Patientensicherheit in Krankenhäusern. Das müssen wir herüberziehen in die Langzeitpflege. Ich weiß, inmitten der Krise lassen sich solche Konzepte schwer realisieren. Doch wir müssen Lehren daraus ziehen und die stationäre Langzeitpflege von Grund auf modernisieren.

Kommen wir noch einmal auf die Einsamkeit zurück. Darunter dürften ja jetzt Millionen Menschen leiden, nicht nur die rund 800.000 in den Pflegeheimen?

Adelheid Kuhlmey: In der Tat zeigen erste Studien deutliche Vereinsamungstendenzen während der Corona-Krise auf. Das trifft in erster Linie Alleinlebende. Zum Beispiel haben sich die Anrufe beim Silbernetz e.V., dem Hilfs- und Kontaktangebot für ältere Menschen, verdoppelt. Aber auch junge Singles sind betroffen, denn sämtliche sozialen Räume sind ja weggebrochen. Einsamkeit wirkt sich in allen Altersgruppen unmittelbar auf den Gesundheitszustand aus. Bis jetzt ist es noch sehr leise um die Alleinlebenden, aber da wird noch im Nachhinein etwas kommen.

Das bedeutet, an anderer Stelle wird durch die Beschränkungen auch Gesundheit zerstört?

Adelheid Kuhlmey: Das ist leider so. Soziale Isolation, Arbeitslosigkeit und das Vernachlässigen notwendiger Behandlungen oder Vorsorgeuntersuchungen machen ebenfalls krank. Gesundheit ist mehr als nur die reine Abwesenheit eines Virus.

Angesichts der Pandemie mit über 250.000 Toten ein Dilemma?

Adelheid Kuhlmey: Ein großes Dilemma. Wir haben es mit einem Gesundheitsfeind zu tun, den wir noch zu wenig kennen, für den wir noch keine Gegenmaßnahmen haben und an dem man sehr schwer erkranken und sterben kann. Deswegen müssen wir achtsam bleiben und uns schützen. Aber wir brauchen eben auch einen pfleglichen Umgang mit den anderen Werten, die für die Gesundheit und die Wahrung der Menschenwürde notwendig sind. Dazu gehören Freiheiten, soziale Kontakte, Bewegung und ein würdiges Sterben. Auf keinen Fall dürfen wir einen  „Krieg“ zwischen den Generationen anfangen – zwischen den alten und den jungen – die Corona- Pandemie bewältigen wir nur gemeinsam. 

Prof. Dr. Adelheid Kuhlmey leitet das Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft an der Charité- Universitätsmedizin Berlin. Die Medizinsoziologin und Gerontologin war in den Jahren von 1999 bis 2010 Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, seit 1997  Mitglied der 3., 4. Und 5. Altenberichtskommission, von 2016 bis 2020 Mitglied des deutschen Ethikrats und ist seit Januar 2020 Vorsitzende des Unabhängigen Beirats für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf.  

Hauptkategorien: Demografischer Wandel , Medizin
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