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Mittwoch, 23. August 2017 – Autor:
Wie können die vielen Geflüchteten in Deutschland trotz Sprach- und Bildungsbarrieren integriert werden? Experten sind sich uneins, ob Chancen oder Probleme überwiegen.

Ohne Sprachkenntnisse läuft fast nichts. Flüchtlinge lernen in einem Übergangswohnheim – Foto: ©Frank Gärtner - stock.adobe.com

Eine Situation wie im Jahr 2015 soll und darf sich nicht wiederholen. So steht es schwarz auf weiß im aktuellen Wahlprogramm der CDU. Ob damit gemeint ist, dass nicht wieder 890.000 Asylsuchende in einem Jahr nach Deutschland kommen dürfen, bleibt offen. Das strittige Wort „Obergrenze“ wird dezent ausgespart. Lediglich betont die Union ihren Wunsch, „dass die Zahl der Flüchtlinge, die zu uns kommt, dauerhaft niedrig bleibt“. Was immer das heißen mag.

Klar ist dagegen, dass der Zuzug von mehr als 1,2 Millionen Asylsuchenden in den letzten zwei Jahren das Land tief gespalten hat. Die einen freuen sich, dass Deutschland bunter und jünger wird. Legendär sind Sätze wie „Wir kriegen jetzt plötzlich Menschen geschenkt (Katrin Göring-Eckardt, Die Grünen) oder „Genau solche Menschen suchen wir (Daimler-Chef Dieter Zetsche). Beide gehören zu jener Fraktion, die in den Geflüchteten jene benötigten Fachkräfte sehen, die einmal die Renten der Babyboomer und ihrer Nachkommen bezahlen. Zetsche hielt sogar ein „neues Wirtschaftswunder“ für möglich.

Andere sind skeptisch, ob Deutschland so einen enormen Zuzug von Fremden verkraften kann, unter ihnen Intellektuelle wie Richard Schröder und Peter Sloterdijk. Die skeptische Fraktion hält die Mehrheit der Asylbewerber für nicht integrierbar oder zweifelt zumindest daran – hauptsächlich wegen des insgesamt niedrigen Bildungsniveaus und der mitgebrachten Ansichten über Frauen, Juden, Homosexuelle und das Verhältnis zwischen Staat und Religion.

Dazwischen gibt es noch die Gleichgültigen bis Unentschiedenen, die ein dumpfes Gefühl haben, irgendwie helfen zu müssen, aber angesichts der Bilder von der Kölner Silvesternacht und anderen durch Flüchtlinge verrichtete Greueltaten wie das Attentat auf den Berliner Weihnachtsmarkt zu zweifeln beginnen, ob das „größte Experiment seit der Wende“ gut gehen kann. Zweifel wachsen auch, weil 80 Prozent der Migranten junge Männer unter 30 sind und jeder zweite keinen Schutzstatus bekommt, also gar kein „echter“ Flüchtling ist.

Das geht nicht spurlos an den Deutschen vorbei. Nahezu alle Umfragen belegen, dass die Sorgen bezüglich der Zuwanderung und Integration wachsen. Nach aktuellen Zahlen des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) machten sich 2016 mehr Menschen in Deutschland Sorgen aufgrund von Zuwanderung als jemals zuvor. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) kommt in seinem Ende April veröffentlichten Stimmungsbarometer zu der Erkenntnis, dass die Befragten in der Fluchtzuwanderung eher Risiken als Chancen sehen. Demnach machte sich jeder zweite Befragte im Jahr 2016 sogar „große Sorgen“.
 
Und auch die überwältigende und auf der ganzen Welt bewunderte Willkommenskultur der Deutschen, die es 2015 erst möglich machte, fast eine Million Menschen mit dem Nötigsten zu versorgen, scheint zu bröckeln. Zwar habe 2016 jeder Dritte in Deutschland für Geflüchtete gespendet und jeder zehnte vor Ort geholfen, schreiben die Autoren in der 17. Wochenschrift 2017 des DIW. „Im Jahresverlauf nahm die in der Umfrage geäußerte Absicht, sich künftig zu engagieren, jedoch ab.“
Auf der anderen Seite weiß jeder, dass Deutschland gerade jetzt liefern muss.

Ein Leben in der Warteschleife ist zermürbend

Den Zuwanderern eine echte Zukunftsperspektive zu bieten, ist nach der ersten „Notversorgung“ die wahre Herausforderung. Allein in Berlin verharren derzeit noch 10.000 Menschen in Notunterkünften, und warten darauf, endlich ein neues Leben beginnen zu können. Ein Leben in der Warteschleife aber ist zermürbend. Die Berliner Psychiaterin Dr. Meryam Schouler-Ocak von der Charité warnt davor, Menschen über Monate und Jahre zum Nichtstun zu verdonnern. „Das macht krank“, sagt sie und betont: „Eine sinngebende Beschäftigung ist das Wichtigste, was die Menschen umgehend brauchen.“

Abgesehen von den persönlichen Einzelschicksalen und den sozialen Folgen macht eine schnelle Integration auch volkswirtschaftlich Sinn. Die Bundesregierung hat zwar immer betont, dass Deutschland keine Flüchtlinge aufnehme, um demografische Probleme zu lösen, sondern aus Gründen des Völkerrechts und der Humanität. Dennoch steht natürlich die Frage im Raum, ob sich die Investitionen im mehrstelligen Milliardenbereich auch einmal auszahlen werden. „Wie sich Wachstum und Wohlstand im Land entwickeln, hängt davon ab, wie Integration gelingt“, sagte Bundesinnenminister Thomas De Maizière im vergangenen Herbst und machte den Deutschen damit klar: Euer Schicksal ist ganz eng mit dem Erfolg oder Misserfolg der Integration verknüpft.
 
Der Chef des Münchner Ifo-Instituts Clemens Fuest glaubt allerdings nicht daran, dass Flüchtlinge einmal mehr Steuern und Abgaben zahlen als sie an öffentlichen Leistungen erhalten haben. Für den Top-Ökonomen ist die Vorstellung, dass Deutschland wirtschaftlich von Flüchtlingen profitiert, „ein durchaus sympathisches, aber leider unrealistisches Wunschdenken.“ Trotzdem hält Fuest es für wichtig, in Integration zu investieren. Jedes Jahr verzögerter Integrationserfolg, schätzt er, dürfte den Staat rund zehn Milliarden Euro zusätzlich kosten.

Die Forscher vom DIW aus Berlin schätzen die Aussichten dagegen ganz anders ein. In einem vom Bundesarbeitsministerium finanzierten Forschungsprojekt kommen sie zu dem Ergebnis, „dass Investitionen in Sprachkompetenz und Bildungsabschlüsse der Flüchtlinge langfristig hohe Renditen erwarten lassen.“

Letztlich bleibt es eine Frage des persönlichen Glaubens, welcher Analyse man vertraut. Ohnehin bleiben derartige Rechnungen für den steuerzahlenden Bürger abstrakt. Eine Familie interessiert im Moment eher die Höhe ihrer Wohnungsmiete oder wie hoch der Migrantenanteil in der Schule ihrer Kinder ist.

Die Forderung von Julia Klöckner (CDU) nach einer Migrantenquote in Klassen mag Wahlkampfpopulismus sein, sie hat jedoch einen ernsten Hintergrund. Wenn mehr als die Hälfte der Kinder kaum Deutsch können, dann ist kein guter Unterricht mehr möglich. Das wissen Lehrer genauso gut wie Eltern und Schüler. Und das weiß auch der der Vorsitzende des Deutschen Philologenverbands Heinz-Peter Meidinger. „Wir wissen, dass eine zu hohe Migrantenquote massive Nachteile für die Schüler hat und dass es schädlich ist für die soziale und sprachliche Integration.“

Dass solche – übrigens durch Studien untermauerte Erkenntnisse – in weiten Kreisen nicht gern zur Kenntnis genommen und die Forderung nach einer besseren Durchmischung der Klassen mitunter als „rassistisch“ abgewertet werden, zeigt den ideologischen Graben, der sich durch Deutschland zieht. Dabei wäre ein intaktes Lernumfeld das Beste, was den neu zugewanderten Mädchen und Jungen passieren kann. Niemand braucht viel Phantasie, um sich die Lernfortschritte eines Flüchtlingskindes aus Mossul oder Aleppo an einer Neuköllner Brennpunktschule vorzustellen.

Selbst an der DaVinci Gesamtschule in Potsdam, wo die Schüler nach einem Jahr Willkommensklasse fitter in der deutschen Sprache und im Benehmen sind, als so manche, „die schon länger hier leben“, weiß man: Je älter die Schüler sind, desto schwerer haben sie es, in den Regelklassen Fuß zu fassen. Und das wird von den „Willis“, wie Kerstin Richter ihre Willkommensklassenschüler liebevoll nennt, schon nach zwölf Monaten verlangt. Wenn die engagierte Lehrerin ein Problem sieht, dann ist es dieses: Ihre Willis in eine ungewisse schulische Zukunft zu entlassen.

Nur jeder Fünfte hat einen beruflichen Bildungsabschluss

Sprache, Bildung und Jobs sind der Schlüssel zur Integration, sagen Experten nahezu einstimmig. Scheinbar über Nacht wurden deshalb im ganzen Land zehntausende Willkommensklassen, Integrationskurse, Sprachunterricht, Ausbildungsinitiativen und berufliche Förderprojekte auf die Beine gestellt. Das ist gut so. Und es ist nötig. Erste repräsentative Studien zeigen, dass das Bildungsniveau der Zugewanderten unterhalb der anfänglichen Erwartungen liegt. Der Anteil der Akademiker unter den Geflüchteten ist mit zehn Prozent in etwa so groß wie derjenigen, die nie eine Schule oder lediglich eine Grundschule besucht haben. Die Studierten mit einberechnet hat nur ein Fünftel einen beruflichen Bildungsabschluss, wobei die Anerkennung wegen der unterschiedlichen Ausbildungssysteme oft schwierig ist.

Von den mitgebrachten Qualifikationen her betrachtet hätten es viele nicht leicht auf dem deutschen Arbeitsmarkt, meint Joachim Möller, Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. „Aber da lässt sich ja auch manches nachholen, wenn die Motivation da ist“, sagt er. Über das Motivationsniveau gibt es allerdings keine repräsentativen Erhebungen. Was es gibt, sind einzelne Erfahrungsberichte.

Einige Berichte rühren an, wie der über einen jungen Afghanen, der in seiner Heimat von den Taliban entführt und schwer misshandelt wurde. Dank der umfassenden Fürsorge des Berliner „Zentrums Überleben“, macht er jetzt eine Ausbildung als Maler – trotz seines schweren psychischen Traumas. Andere ehemalige Patienten, die dort Lebenshilfe bekamen, sind nach Auskunft von Zentrumsleiterin Mercedes Hillen „heute erfolgreiche Selbständige, Studenten oder Angestellte in vielfältigen Berufsfeldern.“

Diese und andere Beispiele machen deutlich: Je mehr Manpower, Zeit, Geld und Herzblut in die Flüchtlingsintegration gesteckt wird, desto größer sind die Aussichten auf Erfolg.
Trotz der gewaltigen Anstrengungen, die Deutschland bereits unternommen hat und weiterhin unternimmt, und die den Staat allein im vergangenen Jahr rund 23 Milliarden Euro gekostet haben sollen: Es gibt Stimmen die sagen, das sei noch nicht genug; noch werde zu viel improvisiert und ehrenamtlichen Helfern überlassen.

Der Psychologe und Islamismusexperte Ahmad Mansour kritisiert nicht nur die Qualität der seiner Ansicht nach viel zu kurzen Integrationskurse, sondern findet auch, dass Lehrer, Polizisten und Sozialarbeiter ganz anders auf ihre neue Aufgabe vorbereitet werden müssten. Was der gebürtige arabische Israeli mit deutschem Pass aber am meisten in Deutschland vermisst, ist das Bekenntnis zu gemeinsamen Werten, die genauso entschlossen hinter Demokratie und Grundgesetz stehen wie sie Kinderehen und das Ausschließen von muslimischen Mädchen vom Schwimmunterricht ablehnen. „Das was uns ausmacht, ist für die Menschen nicht greifbar“, sagt er. Seine Warnung, dass falsch verstandene Toleranz die Integration behindert und die Entstehung von Parallelgesellschaften erst befördert, kommt allerdings in großen Teilen der Gesellschaft nicht gut an.

Wenn die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration Aydan Özoğuz (SPD) erklärt, dass „unser Zusammenleben täglich neu ausgehandelt werden muss“ und eine „spezifisch deutsche Kultur, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar ist“, lässt das erahnen, wie schwer es wird, den Zugewanderten die nötige Orientierung in einer für sie völlig fremden Gesellschaft zu geben. Die aber ist mindestens so wichtig für den Integrationserfolg wie Sprache, Bildung und Jobs.

Foto: Frank Gärtner/ Fotolia

Der Artikel erschien zuerst in der Sonderbeilage "Integration von Flüchtlingen " im Tagesspiegel am 19.08.2017

Hauptkategorie: Demografischer Wandel

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