Ethikrat für schrittweise Lockerung des Lockdowns

Ethikratsvorsitzender Peter Dabrock zur Corona-Krise: „Politik darf der Wissenschaft nicht hörig sein“
Umfragen zufolge befürworten 95 Prozent der Deutschen die aktuell zur Eindämmung der Coronavirus-Infektionen ergriffenen Maßnahmen. Doch ewig lässt sich der Lockdown nicht aufrechterhalten, die sozialen und ökonomischen Folgen wären katastrophal.
Das sieht auch der Deutsche Ethikrat so. Freiheitsbeschränkungen seien zum jetzigen Zeitpunkt gerechtfertigt, müssten jedoch „kontinuierlich mit Blick auf die vielfältigen sozialen und ökonomischen Folgelasten geprüft und möglichst bald schrittweise gelockert werden“, schreibt das Gremium in seiner Ad-hoc-Empfehlung "Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise".
Abwägung konkurrierender moralischer Güter
Das am 27. März veröffentlichte Papier soll Orientierung in einem schwierigen Abwägungsprozess geben. Einerseits geht es darum, eine Überforderung des Gesundheitssystems und eine Triage (Selektion der Patienten wie derzeit in Italien, Frankreich und New York) zu verhindern, andererseits müssen zugleich schwerwiegende Nebenfolgen für Bevölkerung und Gesellschaft möglichst gering gehalten werden. „Das erfordert eine gerechte Abwägung konkurrierender moralischer Güter“, schreibt der Ethikrat, „die auch Grundprinzipien von Solidarität und Verantwortung einbezieht und sorgfältig prüft, in welchem Ausmaß und wie lange eine Gesellschaft starke Einschränkungen ihres Alltagslebens verkraften kann.“
Politik darf Entscheidungen nicht an Wissenschaft delegieren
Dabei dürfe sich die Politik nicht auf Einzelmeinungen einzelner Wissenschaftler verlassen. „Es widerspräche dem Grundgedanken demokratischer Legitimation, politische Entscheidungen an die Wissenschaft zu delegieren und von ihr eindeutige Handlungsanweisungen für das politische System zu verlangen“, mahnt der Etikrat. Gerade schmerzhafte Entscheidungen müssten von den Organen getroffen werden, die hierfür durch das Volk mandatiert seien und dementsprechend auch in politischer Verantwortung stünden. „ Die Corona-Krise ist die Stunde der demokratisch legimitierten Politik.“
Etwas konkreter wurde der Ethikratsvorsitzende Peter Dabrock in einem Interview mit dem Präsidenten der Universität Prof. Dr. Joachim Hornegger Erlangen-Nürnberg (FAU): „Politik darf der Wissenschaft nicht hörig sein“, sagte Dabrock. „Die eine wissenschaftliche Empfehlung, die gibt es doch gar nicht.“
Um die sozialen und ökonomischen Folgekosten zu minimieren sollten, bedarf es aus Sicht des Ethikrats folgender Maßnahmen:
- eine fortlaufend kritische Evaluation (Bewertung) der aktuellen freiheitsbeschränkenden Infektionsschutzmaßnahmen
- eine fundierte Strategie für die transparente und regelmäßige Kommunikation zu ergriffenen Maßnahmen und zur politischen Entscheidungsfindung im Zusammenhang mit Covid-19
- konkrete Berechnungen der zu erwartenden Kosten durch ergriffene Maßnahmen und Alternativszenarien
- Unterstützung von interdisziplinärer Forschung zu sozialen, psychologischen und anderen Effekten der Maßnahmen im Rahmen der Covid-19-Pandemie
Zur Eindämmung der Infektionszahlen empfiehlt der Deutsche Ethikrat unter anderem:
- weiteres Aufstocken und Stabilisieren der Kapazitäten des Gesundheitssystems
- Einführung eines flächendeckenden Systems zur Erfassung und optimierten Nutzung von Intensivkapazitäten
- Abbau bürokratischer Hürden und bessere Vernetzung im Gesundheitssystem und mit anderen relevanten Gesellschaftsbereichen
- weiterer Ausbau von Testkapazitäten
- weitere kontinuierliche Datensammlung zu individueller und Gruppenimmunität und zu Verläufen von Covid-19
- Entwicklung von effektiven und erträglichen Schutz- und Isolationsstrategien für Risikogruppen
Der vollständige Wortlaut der Ad-hoc-Empfehlung ist abrufbar unter www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Ad-hoc-Empfehlungen/deutsch/ad-hoc-empfehlung-corona-krise.pdf.
Foto © Deutscher Ethikrat / Reiner Zensen