Erst mit vier Jahren sind Kinder zur Empathie fähig

Kleinstkinder sind noch nicht in der Lage, sind in andere hineinzuversetzen – Foto: ©very_ulissa - stock.adobe.com
Um zu verstehen, was der andere denkt und wie er sich verhalten wird, entwickelt sich im Laufe des Lebens die Fähigkeit, sich in die Perspektive anderer Menschen hineinzuversetzen. Diese Fähigkeit wird in der Forschung als „Theory of Mind“ bezeichnet, was auch Empathie umfasst. Bislang waren sich Forscher uneinig, wann genau die Fähigkeit zur Empathie und zum Nachvollziehen der Gedanken eines anderen entsteht. Einige Wissenschaftler nahmen an, dass bereits Einjährige dazu in der Lage sind.
Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften, des University College London und des Social Neuroscience Lab Berlin widersprechen dieser These jetzt. Den Forschern zufolge scheint das Gehirn zwei verschiedene Strukturen zu besitzen, durch die wir uns in andere hineinversetzen können. Diese reifen zu unterschiedlichen Zeitpunkten heran.
Vierjährige können Perspektive anderer einnehmen
Bislang waren Forscher uneins darüber, in welchem Alter Kinder erstmals zur Empathie in der Lage sind. In einer aktuellen Studie konnten Forscher nun zeigen, dass Vierjährige sich tatsächlich in andere hineinversetzen können.
Zwar sind schon jüngere Kinder fähig dazu, das Verhalten anderer vorherzusagen. Es zeigt sich jedoch: Sie bedienen sich dabei anderer Prozesse und Hirn-Netzwerke als jene, die uns später zur Theory of Mind befähigen. Das Gehirn scheint damit zwei unterschiedliche Systeme zu besitzen, die es uns ermöglichen, die Sichtweise des anderen einzunehmen.
Wo wird die Katze hinlaufen?
Untersucht haben die Wissenschaftler diese Zusammenhänge mithilfe eines Videoclips. Darin ist eine Katze zu sehen, die eine Maus dabei beobachtet, wie sie in einer Kiste verschwindet. Anschließend kehrt die Katze der Kiste für einen Moment den Rücken zu, die Maus huscht unbemerkt in die benachbarte Box. Als die Katze sich wieder der Szenerie widmet, will sie nach ihrer Beute schauen – und läuft auf die erste Kiste zu.
Die Forscher konnten zeigen, dass erst Vierjährige in der Lage sind vorherzusagen, wohin die Katze laufen wird. Mithilfe der sogenannten Eye-Tracking-Methode analysierten die Wissenschaftler das Blickverhalten ihrer kleinen Studienteilnehmer und stellten fest: Sowohl die Drei- als auch Vierjährigen konnten richtig voraussehen, wo die Katze nachschauen wird. Sie erkannten, dass die Katze die Maus noch immer in ihrem ersten Unterschlupf erwartet und dort suchen wird – obwohl sie selbst wussten, dass sich die Maus an anderer Stelle befindet.
Verschiedene Hirnstrukturen beteiligt
Doch als die Wissenschaftler die Dreijährigen explizit danach fragten, wo die Katze nach der Maus suchen werde, antworteten sie falsch. Sie konnten also zwar mit ihrem Blick richtig vorhersagen, wo die Katze suchen wird, dies aber nicht beantworten, wenn sie explizit gefragt wurden. Erst Vierjährigen gelang es im Schnitt, die richtige Antwort zu geben. Kontrollaufgaben zeigten, dass die Jüngeren die Frage aber durchaus richtig verstanden hatten.
Der Grund für die falsche Antwort ist also offenbar ein anderer: Bei beiden Entscheidungsprozessen, der non-verbalen Variante über den Blick und der verbalen über die Antwort, sind verschiedene Hirnstrukturen beteiligt. Diese Bereiche entwickeln sich zu unterschiedlichen Zeitpunkten. So ist der Cortex im Supramarginalen Gyrus, der Region für die non-verbale Perspektivübernahme, früher ausgereift. Damit können bereits Dreijährige die Handlungen anderer vorhersagen.
Empathie und Einfühlungsvermögen reifen erst spät heran
„Erst im Alter von vier Jahren sind dann der temporoparietale Übergang und der Precuneus entsprechend herangereift, die Regionen, durch die wir verstehen, was andere denken – und nicht nur, was sie fühlen und sehen oder wie sie handeln werden“, erklärt Erstautorin Charlotte Grosse Wiesmann vom MPI CBS das zentrale Ergebnis der Studie.
„In den ersten drei Lebensjahren scheinen also Kinder noch nicht zu verstehen, was der andere denkt und dass das womöglich falsch ist“, erklärt Mitautor Nikolaus Steinbeis vom University College London. „Es scheint einen Mechanismus in der frühen Kindheit zu geben, eine frühe Form der Perspektiveinnahme, bei dem man einfach den Blick des anderen übernimmt. In dieser Entwicklungsphase ist man schlicht darauf angewiesen, das zu übernehmen, was etwa die Eltern wissen und sehen.“ Die Studie erschien im Fachmagazin „Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America“ (PNAS).
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