Das Gesundheitsportal aus der Hauptstadt
Logo Gesundheitsstadt Berlin
Das Gesundheitsportal aus der Hauptstadt

„Ein traumatisierter Flüchtling findet ohne Therapie nicht mehr ins Leben zurück”

Donnerstag, 29. November 2018 – Autor:
Der Neuropsychologe und Traumaforscher Prof. Dr. Thomas Elbert hält schnelle Hilfe für traumatisierte Flüchtlinge für dringend nötig. Gesundheitsstadt Berlin hat mit ihm über lebenslange Traumafolgen, Gewaltbereitschaft und ein gelähmtes Land gesprochen.
Traumaforscher Elbert

Traumaforscher Elbert

Herr Professor Elbert, Sie sind Sprecher der Arbeitsgruppe „Versorgung der psychischen Gesundheit Geflüchteter“ an der renommierten Leopoldina. Wie steht es denn um die seelische Verfassung der Menschen, die zwischen 2015 und 2017 nach Deutschland geflohen sind?

Elbert: Die Studienlage zeigt, dass jeder zweite belastet ist und jeder vierte so schwer, dass er ohne Behandlung nicht mehr ins Leben zurückfindet. Wir sprechen hier mindestens von einer viertel Million schwer traumatisierter Menschen.

Nun ist ja eine Flucht eigentlich immer ein traumatisches Ereignis. Unter welchen Umständen wird ein behandlungsbedürftiges Trauma daraus?

Elbert: Da muss schon einiges zusammenkommen. Wer bis dahin ein einigermaßen gutes und sicheres Leben hatte, wird auch mehrere kriegs- oder fluchtbedingte Schicksalsschläge verarbeiten können. Selbst wenn eine lebenslange Belastung bleibt, weil etwa das eigene Kind zu Tode kam, wird sich in aller Regel keine Traumafolgestörung entwickeln. Wer aber jahrelang und vielleicht schon von Kindesbeinen an Unsicherheit, Gewalt und Bedrohung erlebt hat, bei dem können sich weitere belastende Erfahrungen dann zu einem schweren psychischen Trauma addieren, das zu einer vollständigen Funktionsuntüchtigkeit führt.

In der Stellungnahme „Traumatisierte Flüchtlinge – schnelle Hilfe ist jetzt nötig“ warnen Sie vor den Folgen, auch im Hinblick auf Gewalt. Lassen sich Gewalttaten von Geflüchteten denn allein mit einem seelischen Trauma erklären?

Elbert: Trauma ist zumindest ein Risikofaktor für Gewalt. Wenn Sie ständig bedroht werden und ums Überleben kämpfen - auf der Balkanroute, in einem seeuntauglichen Boot auf dem Mittelmeer oder in einem völlig überfüllten Flüchtlingslager - neigen sie eher dazu, irgendwann zurückzuschlagen. Auch dann, wenn die Bedrohung vielleicht real gar nicht mehr existiert. Wir Psychologen sprechen hier von einer reaktiven Aggression – wir wehren uns gegen eine Bedrohung. Gewaltbereitschaft hat aber noch eine zweite Seite, nämlich dass das Zuschlagen auch Lust erzeugen kann. Diese sogenannte appetitive Aggression steckt  ebenfalls in der Biologie des Menschen. Es ist nichts anderes als der Jagdtrieb. Gewalt kann zu einer richtigen Sucht werden, weil ein Kick damit verbunden ist. Wir kennen das zum Beispiel von Hooligans.

Wie groß ist die Gefahr, dass solche Urinstinkte bei Geflüchteten aktiviert werden?

Elbert: Das kommt immer sehr auf die persönliche Lebensgeschichte an. Wissen Sie, was uns Menschen davon abhält, kriminell zu werden? Es ist nicht die Angst vor dem Gefängnis, sondern vor dem Verlust des Sozialstatus. Wenn Sie den aber nicht haben, haben Sie auch nichts zu verlieren. Entscheidend ist darum auch, welche Zukunftsperspektive Geflüchtete haben.

Ihre Kernforderung lautet, alle traumatisierten Flüchtlinge zu identifizieren und ihnen eine psychotherapeutische Behandlung zukommen zu lassen. Glauben Sie, dass dadurch auch das Risiko für Gewalttaten sinken wird?

Elbert: Erst einmal ist es ein Gebot der Humanität, den Menschen zu helfen. Wir wissen, dass wir durch eine entsprechende Traumatherapie die Symptome sehr gut lindern können. Zwar nicht immer zu hundert Prozent. Aber es ist ein Unterschied, ob ich jede Nacht mit einem Albtraum aufwache oder nur einmal im Monat. Wenn sich ein Mensch nicht mehr bedroht und wieder sicher fühlt, wirkt sich das auch positiv auf die Gewaltbereitschaft aus. Da haben wir sehr gute Erkenntnisse dazu.

Trifft das auch auf das erwähnte Kick-Erlebnis zu?

Elbert: Hierzu gibt es leider weniger wissenschaftliche Daten, was nicht heißt, dass wir mit einer therapeutischen Intervention keine Erfolge haben können. Aber wie gesagt, es geht zunächst einmal um die moralische Verantwortung, Leid zu lindern. Davon abgesehen wird die Gesellschaft langfristig davon profitieren. Bis auf wenige Ausnahmen, wo es zu einer Spontan-Remission kommt, wird jeder Traumatisierte, den wir nicht behandeln, sein Leben lang abhängig vom Sozialstaat bleiben.

Eine Traumatherapie wäre unterm Strich sicher billiger.

Elbert: Und ob. Ein unbegleiteter, minderjähriger Flüchtling kostet den Staat 50.000 Euro im Jahr. Ein Jahr früher im Beruf und in sozialer Integration würde nicht nur persönliches Leid, sondern dazu noch viel Geld sparen.

Klingt alles sehr plausibel. Doch wo sollen plötzlich die Traumatherapeuten für Hunderttausende Menschen herkommen, die kaum Deutsch können?

Elbert: Da müssen wir neue Wege gehen. Unser Vorschlag ist, Leute aus der eigenen Gruppe auszubilden, diese Behandlung durchzuführen. Natürlich werden das keine Psychiater sein, aber Menschen, die eine soziale Ader haben oder vorher schon in sozialen Berufen gearbeitet haben, etwa als Pflegekraft oder als Lehrer. Man hätte dann unter einem Psychotherapeuten rund fünf bis zehn Counselor im Einsatz, die keinen Dolmetscher bräuchten und denen man auch die kulturellen Hintergründe nicht erklären müsste. Das wäre ein zusätzliches Behandlungsmodul, die übrigen Gesundheitsleistungen blieben davon unberührt.

Die Zahl der Behandlungsplätze würde mindestens verfünffacht. Wie kommt Ihre Stellungnahme an?

Elbert: Wir haben Resonanz in ganz unterschiedlicher Art und Weise bekommen, auch von der Politik. Zum Beispiel sind wird mit dem Sozialminister von Baden-Württemberg im Gespräch. Ihm geht es vor allem darum, den unbegleiteten Minderjährigen zu helfen und ihnen eine positive Lebensperspektive zu geben. Aber das Problem ist, dass die Thematik ein heißes Eisen ist.

Inwiefern?

Elbert: Ich glaube, in dem Bereich können Sie keine große Zustimmung in der Bevölkerung erreichen. Deutschland ist beim Thema Flüchtlinge so gelähmt wie das Kaninchen vor der Schlange. Was immer Sie sagen, Sie werden niedergemacht und in eine Ecke gestellt, ob das nun die links-grüne oder die rechte Ecke ist. Nehmen Sie doch das Beispiel Migrationspakt. Eine rationale Diskussion ist in Deutschland nicht möglich. Hinzukommen Ängste, dass wir in ein sehr streng geregeltes System wie das Gesundheitssystem Löcher reinbohren und Scharlatanen die Tür öffnen. Oder der Vorwurf, wird würden eine Zweiklassenmedizin für Flüchtlinge einführen wollen und so weiter. Ich kann mich nur wundern, wie sich ein so hoch entwickeltes Land wie Deutschland selbst so blockieren kann.

Könnte das alles die Umsetzung Ihres Vorschlags behindern?

Elbert: Auf der einen Seite bin ich optimistisch, dass wir etwas verändern können. Aber wenn ich mir auf der anderen Seite anschaue, wie gerade Dinge wie die Dieselpolitik an die Wand gefahren werden, bin ich skeptisch. Trotzdem habe ich die Hoffnung, dass wir bald mit einem Modellprojekt starten können. Dann können wir zeigen, dass unser Ansatz eine Win-Win-Situation für alle ist. Und am besten das passiert bald. Denn je länger wir warten, desto schwerer wird es, das Problem in den Griff zu bekommen.

Prof. Dr. Thomas Elbert, ML, ist Professor für Klinische Psychologie & Neuropsychologie an der Universität Konstanz, Sprecher der Arbeitsgruppe „Versorgung der psychischen Gesundheit Geflüchteter“ an der Leopoldina Nationale Akademie der Wissenschaften und Mit-Autor der Stellungnahme „Traumatisierte Flüchtlinge – schnelle Hilfe ist jetzt nötig“.

Foto: privat

Lesen Sie weitere Nachrichten zu diesen Themen: Psychologie , Trauma , Flüchtlinge

Weitere Nachrichten zum Thema Flucht und Trauma

Ein Gen namens NTRK2 spielt bei der Gedächtnisbildung im Gehirn eine wichtige Rolle. Opfer von Unfällen, Krieg, Vergewaltigung oder Katastrophen, bei denen dieses Gen aktiver ist, sind von Natur aus besser gegen eine Traumatisierung gewappnet und besitzen damit ein geringeres Risiko, an einer „Posttraumatischen Belastungsstörung“ zu erkranken. Diese kann noch Jahre später zu psychischen Beschwerden führen.

Aktuelle Nachrichten

Mehr zum Thema
Weitere Nachrichten
Die Langzeitfolgen der Corona-Pandemie machen Beschäftigten in Gesundheitsberufen besonders zu schaffen. Das zeigt eine Analyse der AOK-Nordost für Berlin. Eine Berufsgruppe ist sogar doppelt so oft betroffen wie der Durchschnitt der Versicherten.

Die Charité hat am Montag eine stadtweite Kampagne gestartet, um neue Mitarbeitende zu gewinnen. Besonders Pflegekräfte werden umworben, aber auch in Forschung, Lehre und Verwaltung sucht die Universitätsmedizin Verstärkung.

Trotz internationaler Transparenzregeln werden viele klinische Studien nicht veröffentlicht. Wichtige Ergebnisse bleiben somit verborgen. Dem setzt das Berlin Institute of Health (BIH) der Charité nun mit einem öffentlich einsehbaren Dashboard etwas entgegen.
Kliniken
Interviews
Einen ambulanten Pflegedienst in Berlin zu finden, ist schwierig geworden. Personalmangel ist das Hauptproblem. Dabei gäbe es relativ einfache Lösungen, sagt Thomas Meißner vom AnbieterVerband qualitätsorientierter Gesundheitspflegeeinrichtungen (AVG). Im Gespräch mit Gesundheitsstadt Berlin verrät der Pflegeexperte und Chef eines häuslichen Krankenpflegedienstes, wie man Menschen in den Pflegeberuf locken könnte und warum seine Branche noch ganz andere Sorgen hat als die Personalfrage.

Affenpocken verlaufen in der Regel harmlos. Doch nicht immer. Dr. Hartmut Stocker, Chefarzt der Klinik für Infektiologie am St. Joseph Krankenhaus in Berlin Tempelhof, über die häufigsten Komplikationen, die Schutzwirkung der Impfung und den Nutzen von Kondomen.

Zöliakie kann in jedem Lebensalter auftreten und ein buntes Bild an Beschwerden machen. Bislang ist das wirksamste Gegenmittel eine glutenfreie Ernährung. Gesundheitsstadt Berlin hat mit PD Dr. Michael Schumann über die Auslöser und Folgen der Autoimmunerkrankung gesprochen. Der Gastroenterologe von der Charité hat an der aktuellen S2K-Leitinie „Zöliakie“ mitgewirkt und weiß, wodurch sich die Zöliakie von anderen Glutenunverträglichkeiten unterscheidet.
Logo Gesundheitsstadt Berlin