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„Die Zöliakie ist auch ohne Medikamente gut behandelbar“

Donnerstag, 10. März 2022 – Autor:
Zöliakie kann in jedem Lebensalter auftreten und ein buntes Bild an Beschwerden machen. Bislang ist das wirksamste Gegenmittel eine glutenfreie Ernährung. Gesundheitsstadt Berlin hat mit PD Dr. Michael Schumann über die Auslöser und Folgen der Autoimmunerkrankung gesprochen. Der Gastroenterologe von der Charité hat an der aktuellen S2K-Leitinie „Zöliakie“ mitgewirkt und weiß, wodurch sich die Zöliakie von anderen Glutenunverträglichkeiten unterscheidet.
Zöliakie erfordert eine strikte glutenfreie Diät

Zöliakie erfordert eine strikte glutenfreie Diät – Foto: Gabrieuskal

Herr Dr. Schumann, die S2K-Leitline „Zöliakie“ wurde soeben aktualisiert. Sie waren einer der Leitlinienkoordinatoren. Welche Neuigkeiten haben Sie für Zöliakie-Patienten? Gibt es etwa neue Therapien gegen die Autoimmunerkrankung?

Schumann: Was neue Therapien betrifft, gibt es einige interessante Perspektiven, die aber noch einige Jahre brauchen, bis sie auf den Markt kommen. Es sind hier vielversprechende Medikamente in Entwicklung, unter anderem so genannte Transglutaminase-Inhibitoren. Die Medikamente befinden sich aktuell in einer mittleren Phase der klinischen Erprobung. Daher dauert es mindestens noch einige, vielleicht mit Glück aber wenige Jahre bis sie zugelassen werden können. Aber auch ohne Medikamente ist die Zöliakie gut behandelbar, nämlich mit einer strikten glutenfreien Diät. Das werden Sie so auch in der Leitlinie finden mit allen dazu gehörigen Empfehlungen wie zum Beispiel die dringende Empfehlung zur professionellen Ernährungsberatung.

Die wesentliche Neuerung für Betroffene betrifft die Diagnostik. Bei Verdacht auf eine Zöliakie raten wir nun gleich im ersten Schritt zu einer Antikörpermessung und erst im zweiten Schritt - bei einem positiven Antikörper-Befund - zu einer Magenspiegelung. Damit wollen wir vielen Menschen einen unnötigen Eingriff ersparen und die Diagnosestellung beschleunigen. Bei Kindern kann unter Berücksichtigung besonderer Umstände gegebenenfalls sogar auf die Endoskopie, also die Spiegelung des Magens und Dünndarms, verzichtet werden.

Die Messung von Antikörpern bringt Gewissheit, ob eine Zöliakie vorliegt?

Schumann: Die Transglutaminase-IgA-Antikörper, die wir dabei im Serum bestimmen, treten ausschließlich bei einer Zöliakie auf. Die Tests haben eine ungewöhnlich hohe Spezifität und Sensitivität, das heißt sie sind wirklich sehr präzise. Das Charmante ist, dass ein paar Tropfen Blut ausreichen, um eine Zöliakie nachzuweisen oder auszuschließen.

Reagiert der Test denn auch dann, wenn die Betroffenen schon auf Gluten verzichten?

Schumann: Guter Punkt. Wer keine glutenhaltigen Lebensmittel zu sich nimmt, der hat in der Regel auch keine messbaren tTg-IgA-Antikörper im Blut. Denn diese Antikörper sind ja eine autoimmune Reaktion auf das Klebereiweiß Gluten. Und wenn dann noch Entzündungszeichen der Darmschleimhaut fehlen, ist eine eindeutige Diagnose meist nicht möglich. Dann hilft nur eins: Die Patienten müssen wieder über einen längeren Zeitraum Weizen und andere glutenhaltige Getreideprodukte zu sich nehmen. Wir nennen das eine Gluten-Reexposition.

Aber verschlimmern sich dann nicht sofort die Beschwerden wie Bauchschmerzen und Durchfall?

Schumann: Nicht unbedingt. Eine Zöliakie äußert sich bei jedem Patienten unterschiedlich. Es gibt ja nicht das eine auslösende Gen, sondern es sind rund an 50 Gene an der Autoimmunerkrankung beteiligt, die in unterschiedlichen Kombinationen bei den Betroffenen vorliegen können und so jede Zöliakie-Erkrankung ein bisschen speziell machen. Insofern ist auch das Erscheinungsbild dieser Erkrankung recht bunt. Manche Menschen haben keinerlei Symptome, was auch die hohe Prävalenz in der Bevölkerung von einem Prozent erklärt. Aber natürlich gibt es Zöliakiebetroffene, die unmittelbar und sehr stark auf das Klebereiweiß reagieren. In diesen Fällen würden wir den Test schon eher durchführen. Ansonsten raten wir die Gluten-Reexposition für etwa sechs bis acht Wochen durchzuhalten. Dann sind wir auf der sicheren Seite, dass uns kein Patient bei der Diagnosestellung verloren geht.

Warum dann noch eine Magenspiegelung, wenn die Tests doch so eindeutig sind?

Schumann: Die Ösophagogastroduodenoskopie, das heißt die Speiseröhren-Magen-Dünndarmspiegelung, zeigt uns, inwieweit die Schleimhaut des Zwölffingerdarms geschädigt und der Zottenschwund schon fortgeschritten ist. Wir entnehmen dabei auch Gewebeproben und bekommen einen eindeutigen pathologischen Befund. Bei Erwachsenen macht die Untersuchung schon Sinn, zumal wir gleichzeitig auch andere Veränderungen in der Speiseröhre und im Magen finden können. Wir schlagen also sozusagen drei Fliegen mit einer Klappe. Bei Kindern sagen wir aber in der Leitlinie ausdrücklich: Wenn der tTg-IgA-Titer das 10-fache des oberen Normwertes übersteigt und sich das Ergebnis durch die Messung eines zweiten Antikörpers – dem Endomysium-IgA – bestätigt, dann brauchen diese Kinder diese etwas invasive Untersuchung nicht.

Eine Zöliakie spielt sich salopp gesagt im Zwölffingerdarm ab?

Schumann: Erst einmal ja. Im Zwölffingerdarm, das ist der obere Abschnitt des Dünndarms, der direkt an den Magen anschließt, findet die Zöliakie-typische Immunreaktion statt, die eine Reihe von Entzündungszellen in der Darmschleimhaut mit einbezieht. Unter anderem werden dabei auch die Autoantikörper gegen das körpereigene Enzym, die Transglutaminase, gebildet. Verschiedene aktivierte Entzündungszellen, darunter T-Zellen, schädigen die ganze Dünndarmschleimhaut derart, dass sich die sogenannten Zotten, die Ausstülpungen der Dünndarmschleimhaut, zurückbilden. Dadurch verkleinert sich die Oberfläche der Darmschleimhaut. In der Folge können die Betroffenen weniger Nährstoffe aus der Nahrung aufnehmen, was fatale Konsequenzen für den ganzen Körper haben kann. Diese Mangelzustände können aber auch begleitende Autoimmunphänomene verursachen, so dass die Zöliakie eine Systemerkrankung ist.

Wie gefährlich ist dann eine Zöliakie?

Schumann: Unbehandelt kann eine Zöliakie sehr schwere Folgen haben. Oberbauchbeschwerden wie Bauchschmerzen, Durchfälle und Blähungen sind dabei nur die Spitze eines Eisbergs. Der Nährstoffmangel kann zum Beispiel zu Gewichtsverlust, einer starken Osteoporose oder einer Blutarmut fühlen, weil dem Körper die entsprechenden Vitamine und Spurenelemente fehlen. Zudem begünstigt die chronische Entzündung bestimmte Krebserkrankungen, insbesondere Lymphome.

Das heißt ein Leben lang keine Pizza, Pasta und kein Kuchen mehr?

Schumann: Das ist schon eine herbe Umstellung, keine Frage. Die gute Nachricht ist: Die Patienten haben es selbst in der Hand. Bei konsequent glutenfreier Ernährung leben sie genauso gesund und lange wie andere, nicht von Zöliakie betroffene Menschen auch. Daran ändert sich auch nichts, wenn einmal ein kleiner „Glutenunfall“ passiert. Nur sollte das nicht zur Regel werden, zumindest nicht, solange wir noch keine passenden Medikamente haben.

Gluten steht ja bei ganz vielen Menschen auf der roten Liste, weil sie das Klebereiweiß nicht vertragen. Was unterscheidet die Nicht-Zöliakie-Weizenunverträglichkeit, wie die Glutensensitivität heute genannt wird, von einer echten Zöliakie?

Schumann: Die Erkrankungen haben durchaus andere Ursachen. Die Gemeinsamkeit besteht nur darin, dass in beiden Fällen glutenhaltiges Getreide die Beschwerden macht. Bei Menschen, die nicht an einer Zöliakie leiden und diese Produkte nicht vertragen, ist aber höchstwahrscheinlich das Gluten gar nicht das eigentliche Problem.

Sondern?

Schumann: Es gibt zwei Theorien: Die eine geht davon aus, dass sogenannte FODMAPs die Bauchbeschwerden auslösen. Das sind schnell vergärende Kohlenhydrate, die in hohen Konzentrationen in glutenhaltigem Getreide vorkommen. Die andere Idee ist, dass manche Menschen sehr empfindlich auf ATIs reagieren. Diese Amylase-Trypsin-Inhibitoren sind im Grunde natürliche Pestizide, die bei der Züchtung von Getreide im Laufe der Jahrhunderte entstanden sind. Deshalb finden wir ATIs in vielen Getreidesorten, nicht nur im Weizen. Man geht davon aus, dass diese pflanzlichen Eiweiße das angeborene Immunsystem aktivieren, was dann zu Reizdarm-ähnlichen Symptomen führen kann. Manche Menschen klagen zusätzlich auch über eine Art Brainfog, sozusagen dem Gefühl der „Mattscheibe“, oder Kopf- oder Gelenkschmerzen. Die zugrundeliegende Immunreaktion unterscheidet sich aber drastisch von der Immunreaktion bei der Zöliakie. Da gibt es keinerlei Verbindung. Und Gluten selbst ist in diesem Fall auch wahrscheinlich gar nicht der Übeltäter.

 

 

 Zur Person:

PD Dr. Michael Schumann ist Oberarzt an der Medizinischen Klinik für Gastroenterologie, Infektiologie und Rheumatologie, Charité Campus Benjamin Franklin. Er ist Koordinator der Leitlinie „Zöliakie“.

Hauptkategorien: Medizin , Umwelt und Ernährung
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