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"Die Mauer muss weg"

Donnerstag, 25. Oktober 2012 – Autor:
Der Gesundheitsweise Professor Ferdinand Gerlach über das neue Gutachten des Sachverständigenrates und warum die Kluft zwischen Praxen und Kliniken überwunden werden muss.
Ferdinand Gerlach

Ferdinand Gerlach

Herr Professor Gerlach, der Sachverständigenrat hat in seinem jüngsten Gutachten die Schnittstelle zwischen ambulanter und stationärer Gesundheitsversorgung unter die Lupe genommen. Wie lautet Ihr Befund?

Gerlach: Es gibt an dieser wichtigen Schnittstelle erhebliche Probleme. Einer der Hauptgründe ist, dass sich Kliniken und Praxen in zwei verschiedenen Welten befinden. Bildlich gesprochen ist unser Gesundheitssystem wie ein geteiltes Land, durch dessen Mitte eine Mauer verläuft.

Sie meinen die Sektoren sind zu stark voneinander getrennt?

Gerlach: Auf beiden Seiten der Mauer gibt es vollkommen unterschiedliche Bedingungen. Das beginnt bei der Art der Honorierung und geht bei der Zulassung und der Bedarfsplanung weiter. Auch der Einsatz von neuen Untersuchungs- und Behandlungsverfahren ist sehr unterschiedlich geregelt, ganz zu schweigen von der Investitionsfinanzierung und der Marktmacht. Kurzum: Es gibt eigentlich keine Anreize für ein Miteinander, eher für ein Gegeneinander.

Was bedeutet dieser Befund für die Patienten?

Gerlach: Wir haben erhebliche Informationsbrüche. Relevante Informationen werden nicht in angemessener Weise oder nicht vollständig von einem Sektor an den anderen gegeben, Diagnostik und Behandlungspläne werden kaum abgestimmt, Medikamente, die der Patient von seinem Hausarzt bekam, werden in der Klinik wieder durch andere ersetzt und umgekehrt. Unterm Strich ist das schlecht für die Patientenversorgung und unnötig teuer dazu.

Teuer, weil Leistungen doppelt und dreifach erbracht werden?

Gerlach: Zum Beispiel. Das zersplitterte System führt darüber hinaus auch zu einem ineffizienten Wettbewerb.

Inwiefern?

Gerlach: In Deutschland werden viele Eingriffe stationär durchgeführt, die in anderen Ländern überwiegend ambulant erfolgen. In einer Studie wurden 37 solcher Eingriffe untersucht. In den USA, Kanada und Dänemark werden zum Beispiel über Dreiviertel aller Leistenbruch-Operationen ambulant vorgenommen, in Deutschland sind es nur sechs Prozent. Wenn man sich dann noch die enorm hohe Bettendichte in Deutschland anschaut, wird klar, dass es noch ungenutzte Potenziale für ambulante Leistungserbringung gibt.

Der Sachverständigenrat analysiert ja nicht nur Probleme, sondern erteilt auch Ratschläge. Wie sieht Ihre Therapieempfehlung aus?

Gerlach: Wir sind der Meinung, dass die Grenze zwischen Kliniken und Praxen überwunden werden muss, indem man die Mauer zunächst perforiert und schließlich ganz abreißt. Im vorhergehenden Gutachten von 2009 haben wir ein Zukunftskonzept vorgeschlagen, in dem wir eine sektorenübergreifende interdisziplinäre Versorgung und auch ein anderes Finanzierungskonzept vorschlagen.

Wo wollen Sie mit der Perforierung der Mauer beginnen?

Gerlach: Eine erste Chance bietet sich in der Ambulanten Spezialfachärztlichen Versorgung – ASV. Hier sieht der Gesetzgeber vor, dass ab nächstem Jahr schwere Erkrankungen wie etwa Krebs oder seltene Erkrankungen mit besonderen Krankheitsverläufen von ambulant tätigen Klinikärzten, Medizinischen Versorgungszentren und niedergelassen Fachärzte unter den gleichen Bedingungen behandelt werden sollen. Nahezu alle Unterschiede, die ich eben aufgezählt habe, die Honorierung etwa, werden dann erstmalig überwunden.

Was erhoffen Sie sich davon, wenn alle unter den gleichen Rahmenbedingungen arbeiten?

Gerlach: Erstmalig gibt es damit einheitliche und faire Wettbewerbsbedingungen. Das wird den Wettbewerb um Qualität intensivieren, aber auch zu einer besseren Zusammenarbeit führen. Davon wird letztendlich der Patient profitieren.

Hausärzte kommen in diesem Modell aber nicht vor.

Gerlach: Die ASV bezieht sich ausschließlich auf spezialisierte Fachärzte. Für uns ist dies aber nur ein erster Schritt, eine Art Feldversuch. In unserem Zukunftskonzept gehen wir noch einen Schritt weiter. Darin schlagen wir ein gemeinsames Finanzierungskonzept für alle Beteiligten vor, also für Hausärzte, Fachärzte und sogar darüber hinaus für Pflege und Arzneimittelversorgung. Jeder Leistungserbringer kann sich einem regionalen Netzwerk anschließen. Und alle sind dann gemeinsam dafür verantwortlich, den Patienten möglichst gesund zu halten – oder unter Erhalt einer möglichst guten Lebensqualität zu versorgen.

Sie haben mal gesagt, bisher sei es aus ökonomischen Gründen besser, wenn die Patienten krank sind.

Gerlach: Das ist leider auch so, denn alle Anreizsysteme sind so konzipiert, dass eine Ausweitung von diagnostischen und therapeutischen Leistungen belohnt wird. Gesunderhaltung wäre da letztlich kontraproduktiv. Wir haben bisher nur einen Wettbewerb um Preise und um Fallzahlen, völlig unabhängig davon wie die Qualität der Versorgung ist. Wir wünschen uns aber gleichberechtigt auch einen Wettbewerb um Qualität. Deshalb schlagen wir in unserem Gutachten auch eine sektorenübergreifende Qualitätssicherung vor, die die Versorgungsqualität in der gesamten Behandlungskette misst.

Ein sperriger Begriff.

Gerlach: Ja, aber eine gute und notwendige Idee. Denn die Lebensqualität des Krebspatienten entscheidet sich nicht nur innerhalb der wenigen Tage, die er im Krankenhaus ist, sondern auch davor und danach. Wenn ich das Outcome für den Patienten bewerten will, muss ich in allen Sektoren Qualitätsinformationen erheben, nicht nur im stationären Bereich wie bisher.

Das Aqua-Institut entwickelt derzeit Qualitätsindikatoren, mit denen das gesamte System bewertet werden soll. Geht das überhaupt?

Gerlach: Es ist nicht einfach, aber es geht. Das erste Verfahren, was jetzt entwickelt wird, betrifft die Versorgung bei Darmkrebs (kolorektales Karzinom). Hier werden neben klinischen Parametern auch Aspekte wie Schmerztherapie, Patienteninformation und Überlebensdauer mit einbezogen – und daran die Versorgungsqualität festgemacht. Die Entwicklung soll letztlich hin zu einer populationsbezogenen Qualitätssicherung gehen. Da schauen wir, wie es der Bevölkerung in bestimmten Regionen insgesamt geht. In diesem Modell ist es nicht wichtig, wie oft ein Hausarzt den Blutdruck seines Patienten misst, sondern wie gesund oder krank die Bevölkerung tatsächlich ist.

Prof. Dr. med. Ferdinand Gerlach ist Vorsitzender des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen sowie Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Interview: Beatrice Hamberger

Foto: Goethe-Universität Frankfurt am Main

Die Sondergutachten des Sachverständigenrates können unter www.svr-gesundheit.de heruntergeladen werden. 

Hauptkategorie: Gesundheitspolitik

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