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"Die Diagnose ist immer ein Schock"

Montag, 12. November 2012 – Autor:
Der Diabetes-Experte Professor Walter Burger über die steigende Zahl der Kinder mit Diabetes und warum diese Kinder einen erhöhten Betreuungsbedarf haben.
Diabetes-Experte Prof. Walter Burger

Walter Burger

Herr Professor Burger, wenn wir jetzt über Diabetes bei Kindern sprechen, dann sprechen wir über Diabetes Typ 1?

Burger: Ja. Anders als in den USA spielt hierzulande der Diabetes Typ 2 bei Kindern eine sehr geringe Rolle. Genaue Zahlen sind schwer zu bekommen. In ganz Deutschland gibt es vielleicht 200 Kinder mit einem Diabetes Typ 2. Vor der Pubertät tritt diese Form bei uns nicht auf.

Die Zahl der Kinder mit Diabetes Typ 1 soll angeblich steigen und die Kinder sollen auch immer jünger werden. Was ist da dran?

Burger: Diesen Trend gibt es in der Tat. Wir wissen, dass die Zahl der Kinder mit Diabetes jedes Jahr um vier bis fünf Prozent steigt, so dass in Deutschland momentan etwa 30.000 Kinder und Jugendliche mit Diabetes leben. Dass sich die Diagnose immer mehr ins Kleinkindesalter verschiebt, stimmt auch. Erst kürzlich hatten wir hier in den DRK Kliniken Berlin | Westend ein einjähriges Kind mit Diabetes zur Behandlung.

Gibt es Erkenntnisse, woran das liegt?

Burger: Derzeit ist noch unklar, ob tatsächlich immer mehr Menschen einen Diabetes Typ 1 bekommen oder ob die Krankheit einfach nur in jüngeren Jahren ausbricht. Wir sprechen hier von der Accelerator-Hypothese, also einer Beschleunigung des Krankheitsgeschehens. Derzeit laufen große Studien, die dieses Phänomen genauer untersuchen.

Könnten Umweltfaktoren eine Rolle spielen?

Burger: Zunächst einmal: Wer Diabetes bekommt, bringt eine erbliche Bereitschaft dafür mit. Die ist anhand von bestimmten Markern auch messbar. Eine genetische Disposition bedeutet aber noch nicht, dass sich tatsächlich ein Diabetes entwickelt. Dass die Diabetes-Inzidenz seit den 1950er Jahren ansteigt, hängt vielleicht paradoxerweise mit den besseren Lebensbedingungen zusammen. Der Körper muss sich heute weniger mit Schmutz oder mit Antigenen von Tieren auseinandersetzen. Diabetes ist ja eine Auto-Immunkrankheit und es scheint, als ob gerade Faktoren wie bessere Hygiene zu einem veränderten  Immunsystem führen, das solche Krankheiten fördert.

Sie sagen, die genetische Disposition ist messbar. Ist es sinnvoll, Kinder auf einen potenziellen Diabetes zu testen?

Burger: Das ist sehr umstritten, da es ja zurzeit noch keine etablierte Maßnahme gibt, den Ausbruch der Erkrankung zu verhindern. Obwohl einige Studien aussagen, dass solche Untersuchungen nicht belastend sind, rate ich persönlich eher davon ab, denn ein positives Ergebnis kann wie ein Damoklesschwert über den Betroffenen hängen.

Aber könnte nicht ein solcher Test verhindern, dass die Krankheit verkannt und somit verschleppt wird?

Burger: Die Symptome beim Diabetes Typ 1 sind so massiv, dass sie sehr schnell offensichtlich werden. Die Kinder werden schlapp, haben extremen Durst und müssen sehr häufig Wasser lassen, manche nässen sogar wieder ein. Das bleibt nicht lange unerkannt.

Was bedeutet die Diagnose Diabetes bei einem Kind?

Burger: Die Diagnose ist immer ein Schock. Diabetes ist eine schwere chronische Erkrankung und bedeutet eine radikale Lebensumstellung, und zwar ein Leben lang. Täglich Blutzucker messen, Insulin zuführen, Kohlehydrate berechnen, das ist eine große Belastung für die betroffenen Kinder und die gesamte Familie. Wir wissen aus Studien, dass viele Mütter ihre Berufstätigkeit aufgeben oder einschränken, wenn ihr Kind Diabetes hat. Der Betreuungsbedarf ist vor allem bei kleinen Kindern immens.

Kinder gehen ja auch in Kitas und in Schulen. Wie sieht es dort mit der Betreuung aus?

Burger: Kinder mit Diabetes haben einen Integrationsstatus. Das heißt, in Kindergarten oder Schule müsste theoretisch eine zusätzliche Betreuungskraft zur Verfügung stehen.

Theoretisch. Und praktisch?

Burger: In der Realität lässt sich dieser Anspruch oft schwer umsetzen und die Lehrer sind in der Regel mit der Situation überfordert. Hinzukommt, dass noch viele Vorurteile bestehen. Viele Kinder meinen, Diabetes sei ansteckend oder selbst verschuldet nach dem Motto: Du hast zu viel Schokolade gegessen. Da ist viel Aufklärungsarbeit zu leisten. Wir bieten unseren Patienten deshalb immer an, auch in die Einrichtungen zu gehen und über die Erkrankung aufzuklären.

Wie erklären Sie einem Kind, dass es von nun an täglich Spritzen braucht?

Burger: Die Kinder werden bei uns altersgerecht geschult. Die Eltern schulen wir parallel, und zwar direkt nach der Diagnose und immer stationär. Aber nicht alle Kinder brauchen täglich Spritzen. Kinder bis sechs Jahre erhalten von uns eine Insulinpumpe. Das ist für diese Altersgruppe die bessere Lösung, wobei auch eine Pumpe sehr viel Sorgfalt erfordert.

Und die älteren Kinder müssen spritzen?

Burger: Die Pumpentherapie ist etwa doppelt so teuer wie die Spritzentherapie, deswegen erwarten die Kassen verständlicherweise eine klare Indikation. Auf Antrag ist bei entsprechender medizinischer Notwendigkeit aber auch bei älteren Kindern eine Pumpentherapie möglich.

Wie begründet ist die Angst, dass Kindern mit Diabetes etwas ganz schlimmes zustößt?

Burger: Diabetes muss behandelt werden, das ist klar. Da aber ein Diabetes Typ 1 nicht lange unentdeckt bleibt, ist auch die Furcht vor Folgeschäden wie Erblindung oder Nervenleiden zu relativieren, die ja beim Typ 2 Diabetes nicht selten schon bei der Diagnosestellung vorliegen. Die immer besseren Behandlungsmöglichkeiten haben dazu geführt, dass Folgeschäden bei Kindern- und Jugendlichen mit Diabetes mellitus Typ 1 immer seltener auftreten. Was vorkommen kann, ist eine akute Unterzuckerung. Das Kind kann dann schlimmstenfalls ohnmächtig werden oder einen Krampfanfall erleiden. Für solche Fälle haben die Eltern aber eine Gegenspritze.

Besteht denn Aussicht, die aufwändige Insulintherapie eines Tages zu ersetzen, beispielsweise durch Stammzelltherapie?

Burger: Ernsthafte Stammzellforscher sagen, das ist noch Zukunftsmusik. Eine Stammzelltherapie ist ein direkter Eingriff ins Immunsystem und mit dem Risiko der Tumorentstehung verbunden. Nur in ganz verzweifelten Fällen greift man darauf zurück, aber sicher nicht bei Kindern. Eine weitere Alternative wäre die Transplantation von Inselzellen. Bis man jedoch das Problem der Abstoßungsreaktion in den Griff bekommt und eine sichere Therapie zur Verfügung steht, werden noch viele, viele Jahre vergehen.

Prof. Dr. med. Walter Burger leitet das Diabeteszentrum für Kinder und Jugendliche an den DRK Kliniken Berlin | Westend und ist Initiator des Berliner Transitionsprogramm.

Hauptkategorie: Medizin

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