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Die Depression hat viele Gesichter

Dienstag, 1. Dezember 2009 – Autor:
Interview mit Prof. Dr. Peter Bräunig, Leiter der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Depressionszentrum am Vivantes Humboldt-Klinikum.
Prof. Dr. Peter Bräunig

Prof. Dr. Peter Bräunig

InterviewHerr Professor Bräunig, der Selbstmord von Robert Enke bewegt Deutschland. Sind Menschen, die unter so grossem Druck stehen wie Spitzensportler, besonders gefährdet an einer Depression zu erkranken?

Extreme Belastungen und Stress können - bei einer vorhandenen Disposition - Auslöser für eine Depression sein. Meist sind Hochleistungssportler wie andere hochleistungsfähige Menschen auch, sehr disziplinierte, pflichtbewusste Menschen, die sehr zeitextensiv arbeiten, so dass die Balance zwischen Belastung und Entlastung, Anspannung und Entspannung nicht mehr stimmt. Nicht alle Menschen, können diesem Druck standhalten und entwickeln eine Depression. Gerade bei hochleistungsfähigen Menschen sind diese Risikofaktoren besonders ausgeprägt.

Welche Rolle spielen genetische Faktoren?
Depressionen haben viele Ursachen. Es gibt nur eine sehr kleine Gruppe von Menschen, bei denen eine affektive Erkrankung stark genetisch bedingt ist. Bei den allermeisten Menschen kommt ein ganzes Bündel ursächlicher Faktoren ins Spiel, bevor eine Depression manifest wird.

Welche Faktoren sind das?

Das ist zum einen die erwähnte Lebensführung, die neben einer ungünstigen work-life-Balance häufig auch von einseitiger psychischer Belastung, monotoner Freizeitgestaltung, Passivität, von Bewegungsmangel, ungesunder  Ernährung oder übermässigem Alkohol- und Nikotinkonsum geprägt ist. Hinzukommen konstellative bzw. situative Faktoren wie etwa Angst vor Verlust des Arbeitsplatzes, Probleme im zwischenmenschlichen Bereich oder Verlusterlebnisse. Unerkannte bzw. unbehandelte Angsterkrankungen führen sehr oft zu Depressionen, ebenso das Fehlen von Schutzmechanismen. Damit meine ich positive, lebensbejahende, optimistische und vor allem aktive Grundhaltungen, eine abwechslungsreiche Lebensführung mit einem breiteren Spektrum an psychischen und körperlichen Beschäftigungen und Anregungen im privaten und beruflichen Leben.

Können auch körperliche Krankheiten zu Depressionen führen?

Nicht zu unterschätzende Risikofaktoren sind körperliche Volkskrankheiten wie Diabetes, Herz-Kreislauferkrankungen, die chronisch obstruktive Lungenerkrankung oder Schmerzerkrankungen. Menschen, die an einer dieser Krankheiten leiden, haben ein besonders hohes Risiko an einer Depression zu erkranken, umgekehrt haben depressive Menschen ein höheres Risiko, z.B. für Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Wird die Krankheit unterschätzt?

Der öffentliche Aufschrei nach dem Tod von Robert Enke zeigt deutlich, dass diese Erkrankung unterschätzt und verdrängt wird. In den letzten zehn bis 15 Jahren wurde viel hinsichtlich der Akzeptanz von Depressionen erreicht, man spricht heute mehr und auch angemessener darüber. Aber für die Leistungsträger hat sich allerdings wenig geändert. Eine seelische Erkrankung wird immer noch als Schwäche ausgelegt.

Ist das der Grund, warum es den meisten so schwer fällt sich zu outen?

Die meisten Menschen äussern sich über ihre Depressionen nur gegenüber dem engsten Familienkreis, kaum gegenüber dem Freundeskreis und gar nicht gegenüber dem Arbeitgeber, weil sie zu Recht befürchten, dass man an ihrer seelischen Gesamtkompetenz zweifelt. Die Fehlerbewertung wird doch eine ganz andere. Wenn ein Torwart, der mal eine Depression hatte, einen Ball durchlässt, wird man sich fragen, ob er dieser Aufgabe überhaupt noch gewachsen ist und entsprechende Konsequenzen ziehen. Auch von Konkurrenten wird man nicht immer annehmen dürfen, dass sie eine solche vermeintliche Schwäche nicht für sich nutzen. Deshalb ist das öffentliche "Outen" für mich nicht die Frage, es bringt dem Betroffenen keine wirkliche Entlastung. Menschen, die im Fokus der Öffentlichkeit stehen haben aus meiner Sicht sehr berechtigte Ängste, ihre Depression nicht publik werden zu lassen. Die Fallhöhe für einen Prominenten ist extrem hoch.

Die Depression ist eine Volkskrankheit - wie gut ist sie heute behandelbar?

Depressionen sind heute sehr gut behandelbar. Voraussetzung ist aber eine sorgfältige, meist sehr aufwändige und differenzierte, Diagnostik, denn das Ursachengefüge ist bei Depressionen so vielfältig wie bei keiner anderen psychischen Erkrankung. Im Rahmen der Diagnostik werden die bedingenden Faktoren, die zu der Erkrankung geführt haben und sie aufrechterhalten, analysiert und gewichtet. Anschliessend werden in Abhängigkeit von der Schwere der Erkrankung therapeutische Entscheidungen getroffen. Als Therapieoptionen kommen verschiedenste Formen der Beratung (Optimierung des Selbstmanagements) und der Psychotherapie in Frage, mitunter verbunden mit einer vorübergehenden Pharmakotherapie. In unserer Klinik mit vier Spezialabteilungen für verschiedene Depressionsformen können wir den Patienten signifikant und nachhaltig helfen.

Nicht jeder Patient wird in einer spezialisierten Klinik behandelt. Wie sieht es draussen in der Praxis aus?

Etwa jede vierte Frau und jeder fünfte Mann in Deutschland erkrankt im Laufe ihres/seines Lebens an einer behandlungsbedürftigen Depression. Die allermeisten Patienten bleiben in der primärärztlichen Versorgung. 30 Prozent der diagnostizierten Patienten werden leider nicht erfolgreich behandelt, hinzukommt eine hohe Dunkelziffer an Menschen, bei denen die Krankheit erst gar nicht erkannt wird. Vor diesem Hintergrund kann es hilfreich sein, wenn sich Prominente im Nachhinein öffentlich zu ihrer Depression bekennen, weil dadurch das Bewusstsein für die Krankheit geschärft wird - auch unter Ärzten. Ich wünsche mir sehr, dass der DFB die Robert-Enke-Stiftung ins Leben ruft. Bei der Popularität, die Fussball in Deutschland hat, hätte das eine Signalwirkung.

Robert Enke war in professioneller Behandlung, dennoch konnte ihm nicht geholfen werden. Ist Enke ein trauriger Einzelfall?

Offenbar war die gegenwärtige depressive Episode von Robert Enke therapeutisch nicht gut eindämmbar. Wir kennen das Phänomen, dass sich Menschen in einem präsuizidalen Syndrom vollkommen abkapseln und mit niemandem über ihre Suizidgedanken sprechen. Gerade Leistungsmenschen haben gelernt, ihre Ängste nach aussen hin zu kaschieren. Dennoch ist diese Gruppe eine Minderheit, in der Regel lässt sich auch Suizidalität gut behandeln.

Was können Angehörige und Freunde für einen Betroffenen tun?

Meine Empfehlung an Angehörige ist: Nachfragen und Zuhören. Wie fühlt sich eine Depression an, was empfindest Du dabei? Das Interesse signalisiert, dass der Betroffene ernst genommen wird. Angehörige sollten aber mit gut gemeinten Ratschlägen zurückhaltend sein und wissen, dass depressive Menschen oft meinen, für andere eine Last zu sein, sie fühlen sich oft minderwertig und neigen sehr zu Schuldgefühlen. Depressive Menschen brauchen professionelle Hilfe, oft ist der Weg über den Hausarzt sinnvoll. Suizidgedanken sind immer ein Alarmsignal, Hilfe und Schutz dürfen dann nicht mehr aufgeschoben werden.

Wie fühlt sich eine Depression an?

Der betroffene Mensch ist erschöpft, niedergeschlagen, jede Aktivität fällt schwer, der Körper fühlt sich bleiern an. Selbstverständlichste Alltagshandlungen kosten einen sehr hohen Energieaufwand. Alle Lebensgeister sind gebremst, nur Ängste und Sorgen laufen aus dem Ruder. Leider hat die Depression sehr viele Gesichter - bis zur richtigen Diagnose und Therapie ist es oft ein sehr langer Weg.

Hauptkategorie: Medizin

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